Nimm dich in acht
hier.
Der Wachmann winkte ihn durch. »Schön, Sie zu sehen, Dr. Richards!« rief er.
Er fand seine Mutter in ihrem Atelier vor. Mit sechzig Jahren hatte sie begonnen zu malen, und in zwölf Jahren ernsthafter Beschäftigung mit der Kunst war ihr angeborenes Talent zu echter Begabung gereift. Sie saß mit dem Rücken zu ihm vor der Leinwand und war mit jeder Faser ihres zierlichen, schlanken Körpers in ihre Arbeit vertieft. Neben der Staffelei hing eine schimmernde Abendrobe.
»Mutter …«
Er konnte ihr Lächeln sehen, bevor sie sich ihm gänzlich zugewandt hatte. »Donald, ich hatte dich allmählich schon aufgegeben«, sagte sie.
Ein Bild stand ihm flüchtig vor Augen, die Erinnerung an ein Spiel, das sie in seiner Kindheit gespielt hatten. Wie er von der Schule nach Hause in die Penthouse-Wohnung seiner Eltern an der Fifth Avenue kam und wußte, daß seine Mutter in ihrem Arbeitszimmer sitzen würde; also lief er dorthin und machte absichtlich Lärm, als er die Holzstufen hochpolterte und »Mutter, Mutter« rief, denn schon als Kind hatte er den Klang dieses Worts gemocht, und er wollte ihre Stimme hören, wenn sie antwortete: »Ist da Donald Wallace Richards, der netteste kleine Junge von Manhattan?«
Jetzt erhob sie sich und kam mit ausgebreiteten Armen zu ihm, doch anstatt ihn zu umarmen, fuhr sie nur mit den Fingerspitzen über seine Schultern und hauchte einen Kuß auf seine Wange. »Ich will dich nicht mit Farbe beschmieren«, sagte sie, dann trat sie zurück und schaute ihrem Sohn prüfend ins Gesicht. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, daß du es vielleicht nicht schaffst.«
»Du weißt doch, dann hätte ich angerufen.« Er merkte, daß das kurz angebunden klang, doch seiner Mutter schien es nicht aufzufallen. Er hatte nicht die Absicht, ihr zu sagen, wo er in den letzten Stunden gewesen war.
»Und was hältst du von meiner neuesten Arbeit?« Sie hakte ihn unter und führte ihn zu der Leinwand. »Findet sie deine Zustimmung?«
Er erkannte den Gegenstand ihrer Malerei – die Gattin des derzeitigen Gouverneurs. »Die First Lady von New York! Ich bin beeindruckt. Der Namenszug ›Elizabeth Wallace Richards‹ auf einem Porträt wird allmählich zu einem Gütesiegel.«
Seine Mutter berührte den Ärmel des Kleids, das neben der Staffelei hing. »Das ist die Robe, die sie auf dem Ball zur Amtseinführung getragen hat. Sie ist zwar wunderschön, aber, mein Gott, ich werde noch blind von dem komplizierten Perlenmuster, das ich malen muß!«
Arm in Arm gingen sie die breite Treppe hinunter und durch die Eingangshalle in den Speiseraum, von dem man auf den Innenhof und den Garten blickte.
»Ich finde, unsere Vorgänger wußten, was sie taten, als sie diese Häuser bauten«, bemerkte Elizabeth Richards.
»Obwohl – weißt du, daß es hier neulich geschneit hat? Im Oktober!«
»Die Lösung des Problems liegt klar auf der Hand«, sagte Don trocken, während er einen Stuhl für sie heranzog.
Sie zuckte die Schultern. »Spiel mir gegenüber bitte nicht den Psychiater. Natürlich fehlt mir meine Wohnung und die Stadt – manchmal, aber ich kann nur richtig arbeiten, wenn ich hierbleibe. Hoffentlich hast du Hunger mitgebracht?«
»Nicht viel«, sagte er ein wenig zögernd.
»Trotzdem solltest du jetzt zu Messer und Gabel greifen.
Carmen hat es wie üblich darauf abgesehen, dich zu verwöhnen.«
Jedesmal, wenn er nach Tuxedo Park kam, übertraf die Haushälterin seiner Mutter sich selbst in der Zubereitung eines seiner Lieblingsgerichte. Heute gab es ihr spezielles Chili, heiß und scharf. Während seine Mutter in einem Hähnchensalat herumstocherte, langte er kräftig zu. Als Carmen sein Wasserglas nachfüllte, spürte er, daß sie ihn beobachtete und auf eine Reaktion wartete.
»Es schmeckt großartig«, verkündete er. »Rena ist ja schon eine tolle Köchin, aber an Ihr Chili kommt sie nicht heran.«
Carmen, eine schlankere Ausgabe ihrer Schwester, seiner Haushälterin, strahlte. »Dr. Donald, ich weiß, meine Schwester sorgt in der Stadt gut für Sie, aber eins muß ich Ihnen sagen, ich habe ihr das Kochen beigebracht, und sie hat mich noch nicht eingeholt.«
»Aber viel fehlt nicht mehr«, warnte Don, dem einfiel, daß Carmen und Rena regelmäßig Kontakt hielten. Unter keinen Umständen wollte er, daß Rena verletzt war, weil Carmen ihr von einem Kompliment erzählte, das er ihr gemacht hatte. Er beschloß, schnell ein anderes Thema anzuschneiden. »Na schön, Carmen, was hat Rena Ihnen
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