Nimm dich in acht
mit dem Dreißig-Sekunden-Countdown begann, sagte sie schnell: »Jed, erinnerst du dich an Tiffany, die gestern angerufen hat? Ich rechne eigentlich nicht damit, daß sie sich noch mal meldet, aber falls sie doch anrufen sollte, zeichne bitte ihre Telefonnummer auf.«
»In Ordnung.«
»Zehn Sekunden«, warnte der Toningenieur.
Per Kopfhörer hörte Susan: »Und nun bleiben Sie dran zu Fragen Sie Dr. Susan«, gefolgt von einem kurzen Musikjingle. Sie holte tief Luft und begann: »Hallo und herzlich willkommen. Ich bin Dr. Susan Chandler. Heute wenden wir uns gleich den Höreranrufen zu, um Ihre Fragen zu beantworten, also melden Sie sich. Lassen Sie uns darüber sprechen, was Sie auf dem Herzen haben.«
Wie gewohnt verging die Zeit wie im Flug. Einige Anrufe galten recht banalen Themen: »Dr. Susan, eine Frau bei mir im Büro treibt mich zum Wahnsinn. Wenn ich neue Klamotten trage, fragt sie mich, wo ich sie gekauft habe, und dann taucht sie ein paar Tage später in haargenau demselben Aufzug auf. Das war schon mindestens viermal so.«
»Diese Frau hat offenbar Schwierigkeiten mit ihrer Identität, aber das geht Sie nichts an. Es gibt eine einfache, direkte Lösung für Ihr Problem«, sagte Susan. »Verraten Sie ihr nicht, wo Sie Ihre Kleider kaufen.«
Andere Anrufe waren komplexer: »Ich mußte meine neunzig Jahre alte Mutter in ein Pflegeheim geben«, sagte eine Frau, deren Stimme erschöpft klang. »Es hat mich fast umgebracht, ihr das anzutun, aber körperlich ist sie völlig hilflos. Und jetzt will sie nicht mehr mit mir sprechen. Ich fühle mich so schuldig, ich kann nicht mehr klar denken.«
»Lassen Sie ihr ein wenig Zeit, sich einzugewöhnen«, schlug Susan vor. »Besuchen Sie sie regelmäßig. Denken Sie daran, daß Ihre Mutter Sie sehen will, auch wenn sie Sie ignoriert. Sagen Sie ihr, wie sehr Sie sie lieben. Wir alle brauchen die Sicherheit, daß wir geliebt werden, besonders wenn wir Angst haben, so wie Ihre Mutter jetzt.
Und schließlich, was am wichtigsten ist, hören Sie auf, sich Vorwürfe zu machen.«
Das Problem ist, daß manche von uns zu lange leben, dachte Susan traurig, während die Lebenszeit anderer, wie die von Regina Clausen und Carolyn Wells, gewaltsam verkürzt wird.
Die Sendezeit war fast um, als Jed verkündete: »Unsere nächste Anruferin ist Tiffany aus Yonkers, Susan.«
Susan blickte zum Kontrollraum hinüber. Jed nickte – er würde Tiffanys Telefonnummer von der Anruferidentifikation speichern lassen.
»Tiffany, ich freue mich, daß Sie sich melden …«, begann Susan, wurde jedoch unterbrochen.
»Dr. Susan«, sagte Tiffany hastig, »ich hatte fast nicht den Mut anzurufen, weil ich Sie vielleicht enttäusche.
Sehen Sie …«
Bestürzt lauschte Susan der offenbar einstudierten Ansprache, warum Tiffany ihr den Türkisring nicht schicken konnte. Es hörte sich fast an, als lese sie von einem Blatt ab.
»Also, wie ich schon sagte, Dr. Susan, hoffentlich sind Sie nicht enttäuscht, aber es ist ein so hübsches Andenken, und Matt, mein früherer Freund, hat es mir geschenkt, und der Ring erinnert mich an all die schönen Augenblicke, die wir zusammen hatten, als wir miteinander gingen.«
»Tiffany, könnten Sie mich in meiner Praxis anrufen?«
warf Susan eilig ein, dann hatte sie plötzlich das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben. Hatte Sie nicht vor erst achtundvierzig Stunden genau das gleiche zu Carolyn Wells gesagt?
»Dr. Susan, ich werde es mir mit dem Ring nicht anders überlegen«, erwiderte Tiffany. »Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich Ihnen noch sagen, wo ich arbeite -
im …«
»Bitte nennen Sie nicht den Namen Ihres Arbeitgebers«, schnitt Susan ihr energisch das Wort ab.
»Ich arbeite im ›Grotto‹, dem besten Italiener von Yonkers«, sagte Tiffany trotzig. Sie schrie fast.
»Werbepause, Susan«, brüllte Jed in den Kopfhörer.
Wenigstens weiß ich jetzt, wo ich sie finden kann, dachte Susan ergeben, während sie automatisch fortfuhr:
»Und nun eine Durchsage von unseren Sponsoren.«
Als die Sendung vorüber war, ging sie in den Kontrollraum. Jed hatte Tiffanys Telefonnummer hinten auf einen Umschlag gekritzelt. »Klingt, als wäre sie eigentlich dumm, aber clever genug, um Gratiswerbung für ihren Boß zu machen, ist sie«, bemerkte er säuerlich.
Eigenwerbung war in der Sendung strengstens verboten.
Susan faltete den Umschlag und steckte ihn in ihre Jackentasche. »Mich beunruhigt, daß Tiffany sich offenbar einsam
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