Nimm dich in acht
Polizei. Der Mörder, vermutlich ein Drogensüchtiger, war gestört worden, vielleicht von einem Kunden, der unerwartet den Laden betreten hatte. Nach dem Szenarium der Polizei hatte der Täter sich hinten im Laden versteckt, bis der Kunde gegangen war, dann war er geflüchtet. Er war klug genug gewesen, das
»Geschlossen«-Schild aufzuhängen und die Türverriegelung einrasten zu lassen. Dadurch hatte er sich einen Vorsprung verschafft.
Was die Polizei von Nat und anderen Ladeninhabern des Blocks wollte, waren Informationen. Die Beamten erfuhren, daß Abdul am Dienstag morgen den Laden wie gewohnt um neun Uhr geöffnet und gegen elf den Gehsteig gefegt hatte, nachdem von einem Kind dort der Inhalt einer Tüte Popcorn verstreut worden war.
»Nat«, sagte der Detective. »Benutz dein Gehirn mal für was anderes als für die Gosse. Du liegst Parki direkt gegenüber und stellst doch immer den neuesten Schund in dein Schaufenster. Hast du irgendwann nach elf Uhr jemanden in Abduls Laden gehen und herauskommen sehen?«
Bis zu seiner Vernehmung um drei Uhr hatte Nat viel Zeit gehabt, um nachzudenken und sich zu erinnern.
Gestern hatte nicht viel Betrieb geherrscht, aber das war dienstags immer so. Gegen eins hatte er Schaukästen mit frisch eingetroffenen Pornofilmen im Schaufenster angeordnet. Obgleich er ihn nicht direkt angesehen hatte, war ihm draußen vor seinem Laden ein gutangezogener Typ aufgefallen. Er schien sich das Zeug anzuschauen, das bereits ausgestellt war. Doch dann war er nicht etwa ins Geschäft gekommen, sondern hatte die Straße überquert und war geradewegs in Abduls Laden gegangen, ohne einen Blick ins Schaufenster zu werfen.
Nat wußte noch recht gut, wie der Kerl ausgesehen hatte, wenn er ihn auch nur im Profil gesehen und der Mann eine Sonnenbrille getragen hatte. Aber auch wenn der gutangezogene Typ gegen eins zu Ab gegangen war, er hatte den armen kleinen Kerl mit Sicherheit nicht getötet, sagte Nat sich. Nein, es hatte keinen Sinn, ihn den Cops gegenüber zu erwähnen. Wenn er das täte, würde er den ganzen Nachmittag auf dem Revier zubringen und seine Zeit mit einem Polizeizeichner verschwenden müssen.
Kam nicht in Frage.
Außerdem, dachte Nat, sieht der Typ wie alle meine Kunden aus. Die Typen von der Wall Street, die Anwälte und Ärzte, die mein Zeug kaufen, würden durchdrehen, wenn sie erführen, daß ich mit den Cops über einen von ihnen gesprochen habe.
»Ich hab’ keinen Menschen gesehen«, sagte Nat zu den Cops. »Aber eins will ich euch noch sagen, Leute«, fügte er tugendhaft hinzu. »Ihr solltet endlich mal was gegen die Drogenfreaks in dieser Gegend unternehmen. Für einen Schuß würden die ihre eigene Großmutter umbringen. Das könnt ihr dem Bürgermeister von mir bestellen!«
46
Pamela Hastings fürchtete, daß die Studenten in ihrem Komparatistik-Seminar
heute nur ihre Zeit
verschwendeten. Nach zwei schlaflosen Nächten und der fortgesetzten tiefen Sorge um ihre Freundin Carolyn Wells war sie körperlich und gefühlsmäßig ausgelaugt. Und jetzt wurde sie auch noch fast gänzlich von ihrem Verdacht in Anspruch genommen, daß Carolyns Verletzungen eventuell nicht auf einen Unfall zurückzuführen waren, sondern daß in Wahrheit Justin aus Wut oder Eifersucht versucht hatte, sie zu töten. Ihr war unangenehm bewußt, daß ihr heutiger Vortrag über die Göttliche Komödie zusammenhanglos und unübersichtlich geriet, und sie war erleichtert, als die Vorlesung vorüber war.
Was alles noch schlimmer machte, war die Nachricht, daß sie Dr. Susan Chandler anrufen sollte. Was konnte sie Dr. Chandler sagen? Sie hatte auf keinen Fall das Recht, mit einer völlig Fremden über Justin zu sprechen.
Dennoch wußte sie, daß sie den Anruf zumindest erwidern mußte.
Der Campus der Columbia Universität war sonnenüberflutet, mit bunten Herbstblättern geschmückt.
Ein herrlicher Tag, um am Leben zu sein, dachte Pamela ironisch, als sie ihn überquerte. Sie winkte einem Taxi und gab die inzwischen allzu vertraute Adresse an: »Lenox Hill Hospital.«
Nach knapp zwei Tagen kamen ihr die Schwestern der Intensivstation beinahe wie alte Freundinnen vor. Die Schwester, die Schalterdienst hatte, beantwortete Pamelas unausgesprochene Frage: »Sie kämpft, aber ihr Zustand ist noch sehr kritisch. Es besteht eine Chance, daß sie aus dem Koma erwacht. Heute früh hatten wir den Eindruck, daß sie etwas sagen wollte, aber dann hat sie wieder das Bewußtsein verloren. Trotzdem
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