Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nimm Platz und stirb

Nimm Platz und stirb

Titel: Nimm Platz und stirb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
Vom Netzwerk:
Sein
Blick ging wieder langsam nach oben und folgte den beiden dicken Kabeln, die
von dem schwarzen Gehäuse des Scheinwerfers durch den Raum hingen, schräg
aufsteigend, zum gegenüberliegenden Balken, über meinen und Jühls Kopf hinweg.
    »Wohin führen die Kabel?«
    »Zum Transformator«, antwortete der
Beleuchter. »Drüben uff de andere Seite jehn se runta und denn uff’n Parkett
entlang.«
    Langsam ging der Kommissar durch die
schweigenden Menschen, quer durch den Raum. Wie Reinold, der dadurch dem Tod
entgangen war. Ich folgte seinem Weg mit den Augen. Er kam an uns vorbei,
verschwand durch die Türöffnung zum Nebenraum. Seine langsamen Schritte klangen
herüber wie die eines Postens vor dem Kerker. Auch Reinold blickte ihm nach.
Die Falten in seinem Gesicht waren grau, mit feinen weißen Linien dazwischen.
    Der Kommissar kam zurück, seine Augen
gingen im Kreis herum, über jeden einzelnen von uns. Er sagte freundlich, fast
uninteressiert, als wollte er das Alter eines Hundes wissen: »War jemand von
Ihnen hier nebenan, als der Scheinwerfer fiel?«
    Niemand antwortete. Alle waren so still
wie Serkoff, der drüben lag. Jeder wußte, was der Kommissar dachte. Eine Hand
im Nebenraum hatte an dem Kabel gezogen, als Serkoff saß. Ein kleiner Ruck,
nichts weiter.
    Der Kommissar sah wieder nach oben zu
den reglosen Gestalten der Beleuchter.
    »Hat einer von Ihnen jemanden in diesem
Raum gesehen?«
    Sie schüttelten ihre Köpfe, einer nach
dem anderen. Natürlich. Jeder von uns hatte auf die Szene geachtet. Keiner
hatte zu sehen brauchen, ob jemand im Nebenraum war und ob das Kabel sich
straffte in der Dunkelheit. Ein Plan vom Teufel persönlich. Oder ein Zufall, so
selten wie ein gutes Drehbuch.
    »Tut mir leid, meine Herrschaften«,
sagte der Kommissar, es klang so, als würde es ihm nicht die Spur leid tun.
»Ich werde Sie alle noch ziemlich lange aufhalten müssen. Aber wie ich hörte,
werden in Ihrer Branche oft Überstunden gemacht.«
    Wir blieben eine dreiviertel Stunde auf
unseren Plätzen stehen. Einer schlich herum und machte eine Skizze von dem
ganzen Laden und von dem Standort jedes einzelnen. Ein anderer knipste jeden
Winkel der Dekoration mit so viel Liebe wie unser Standfotograf, wenn viele
Mädchen versammelt sind. Zuletzt fotografierte er Serkoff. Das Blitzlicht
zuckte grell über das tote Gesicht. Noch im Tode sah er drohend aus und
unberechenbar, als würde er seine Mörder kennen und nachsinnen über die
Vergeltung.
    Dann brachten sie ihn weg. So oft hatte
er in dieser Halle gestanden, die er nun auf einer schmalen Bahre verließ. Das
Laken hing zu beiden Seiten herab. Seinen Hut mit der kurzen, heruntergezogenen
Krempe hatten sie auf seine Brust gelegt wie den Helm eines toten Soldaten.
    Die Zeit wollte überhaupt nicht
vergehen. Es war halb fünf am Nachmittag. Ich saß in meiner Zelle, als wäre ich
schon im Untersuchungsgefängnis. Die Beine hatte ich auf dem Schreibtisch, und
mit den Augen starrte ich Girlanden in die Wand. Mein Magen verlangte
gebieterisch nach einer auskömmlichen Mahlzeit. Dieser Kommissar hatte einen
sonnigen Humor.
    Nach der Skizze und dem Fotografieren
hatte jeder in seine Garderobe gehen müssen. Bereithalten zum Verhör. Essen
durften wir nicht, telefonieren durften wir nicht. Was jemand machen sollte,
der Durchfall hatte, war vollkommen unerfindlich. Ich dachte an Serkoff. Er tat
mir leid. Er hatte genausogern gelebt wie wir alle. Zufall oder Absicht?
Absicht oder Zufall?
    Ich dachte an noch etwas anderes. Die
Nacht mit dem Mann in der Halle. Sollte ich es sagen? Vielleicht wäre es ein
noch größerer Fehler als der, daß ich mich vor ihm verkrochen hatte. Ich war
die Nacht über hier gewesen. Sie könnten denken, ich wollte den abmontierten
Scheinwerfer nur auf einen großen Unbekannten schieben. Haha, was für ein
billiger Trick. Kann nur einem Drehbuchmenschen einfallen. ‘
    Um siebzehn Uhr fünfundzwanzig trat der
Kommissar ein. Ich war schon schläfrig wie ein Nachtwächter. Ich zog die Beine
vom Schreibtisch und kippte dabei mit dem Stuhl hintenüber. Der Kommissar half
mir wieder in die Senkrechte.
    »Lassen Sie sich nicht stören. Ein
bißchen spät geworden, wie? Ich heiße Nogees. Mit zwei E.«
    Meinetwegen hätte er vier E haben
können.
    »Ach, das macht nichts«, sagte ich.
»Ich arbeite oft nachts. Nehmen Sie Platz.«
    Er hatte Nikotinfinger. Er rauchte
schon, bevor er saß. Nach drei Minuten wußte er alles über meinen Stammbaum und
meinen Beruf.

Weitere Kostenlose Bücher