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Nimm Platz und stirb

Nimm Platz und stirb

Titel: Nimm Platz und stirb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
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ihm?«
    »Ja«, sagte sie hart. »Heute bin ich
froh, daß ich mich rechtzeitig auf mich selbst verlassen habe. Das gefiel ihm
nicht, deshalb wollte er sich nicht scheiden lassen. Er haßte es, wenn jemand
unabhängig ist, wenn jemand ohne ihn auskommt. Fünf Jahre lang habe ich mich
jeden Tag darüber gefreut, daß ich es kann.«
    »Jedes Ding hat eine Rückseite,
vielleicht war es etwas anderes, sein Freund zu sein, als seine Frau.«
    Sie lachte bitter.
    »Ich glaube es fast! Mit jemandem zu
saufen ist wohl etwas anderes, als mit ihm verheiratet zu sein!«
    Ich trank langsam in kleinen Schlucken.
Hatte ich ihr gegenüber ein Recht, einen toten Freund zu verteidigen?
    »Wir haben nicht nur gesoffen, Vera!«
sagte ich.
    »Ich weiß.«
    Sie sagte das in einem Ton, der so kühl
war wie das Glas in meiner Hand.
    »Ich weiß. Ich beklage mich auch nicht.
Ich bin noch gut weggekommen.«
    Sie sagte auch das in einem Ton, der so
kühl war wie Glas, und ich wußte in diesem Moment noch nicht, daß ich mich
damit auf einen Weg begab, an dessen Ende es keine Rätsel mehr gab. »Wer ist
denn noch schlechter weggekommen?«
    Sie schwieg. Viel zu lange für meine
Geduld. Plötzlich stand sie auf. Sie ging hinaus über den Flur. Eine Tür schlug
zu. Ich blieb allein mit meinen Gläsern, der Blumenvase auf dem Tisch und den
leuchtenden Blumen am Fenster. Die Sonne war weitergewandert, und ein
Schattenkeil schnitt von rechts her in ihre warme Fläche.
    Vera blieb lange. Ich wußte nicht, was
sie drüben tat. Vielleicht saß sie da und weinte.
    Ich nahm neues Bier und neuen Cognac.
Vieles von dem, was Vera gesagt hatte, war wahr. Sie hatte ein Recht zu weinen.
Niemand von uns hatte mehr zu ihr gehen dürfen, als sie von Reinold geschieden
war. Niemand hatte es gewagt. Alle hatten wir so getan, als habe es nie eine
Vera Reinold gegeben. Und jemand existierte, dem er mehr angetan hatte, und der
länger hassen konnte als sie?«
    Vera kam zurück. Sie hatte nicht
geweint. Sie ging am meinem Sessel vorbei, machte eine kurze, lässige
Handbewegung. Zwei unbeschriebene Postkarten fielen vor mich auf die Goldfäden
der Decke. Ich nahm die Karten auf und drehte sie langsam um. Es waren zwei
Fotografien. Neun mal zwölf, chamois glänzend, aber der Glanz war matt und
blind mit feinen Rissen.
    »Wer ist das?«
    »Seine Frau.«
    »Wer?«
    »Seine Frau. Die erste.«
    Langsam hob ich die Bilder zwischen
Veras Gesicht und meine Augen. Es dauerte etwas, bis ich scharf sah. Nie hatte
ich etwas gehört von einer ersten Frau.
    Sie war jung, schmal und schön. Die
Bilder waren so gemacht wie aus alten Filmkalendern, etwa aus dem Jahre
neunzehnhundertsechsunddreißig. Renate Müller und Sibylle Schmitz, mit weichen
Wellen um die Stirn, und ganz feinen Schatten unter den Augen.
    Das Mädchen konnte höchstens zwanzig
gewesen sein, als das Bild aufgenommen wurde. Es war ein zartes Gesicht mit
Augen, die nach einem Beschützer Ausschau hielten. Soweit ich erraten konnte,
schien sie blaue Augen zu haben, sehr nett zu schwarzen Haaren. Meinen Typ fand
ich immer nur auf Fotografien. Immerhin hätten es auch braune Augen sein
können. Schwer auszumachen. Irgend etwas Bekanntes steckte in dem Bild und in
dem Anblick des Mädchens, aber ich wußte nicht woher es kam.
    »War sie Schauspielerin?«
    Vera nickte.
    »Ja. Er blieb immer gern in der
Branche.«
    »Hm.«
    Die andere Fotografie zeigte den Kopf
im Halbprofil, wieder zerbrechlich wie Porzellan. Gespannte, zarte Haut und ein
Hals, der einen aufforderte, ihr zuzurufen: »Erkälte dich nicht! Nimm den Schal
mit.«
    »Kommt mir vor, als hätte ich sie schon
einmal irgendwo gesehen«, sagte ich. »Bild oder Film oder sonstwo.«
    »Kann schon sein. Sie hat vor dem Krieg
ein paar Rollen gehabt. Stefans Entdeckung.«
    »Was ist aus ihr geworden?«
    Vera nahm ihr Glas. Sie sprach, als
erzählte sie von ihrem letzten Urlaub, aber sie lächelte nicht dabei.
    »Sie war anders als ich. Sie hat sich
auf ihn verlassen. Und deshalb hat sie sich vor ihren Gasherd gesetzt als
Stefan von ihr weggegangen war. Aber sie hat nichts gekocht. Für wen sollte sie
noch kochen? Sie hat nur aufgedreht und gewartet. Erst nach drei Tagen haben
sie sie gefunden. Und denk nur, was für ein Glück! Der Hausmeister hatte gerade
erst seine Zigarette ausgetreten, bevor er die Tür aufbrach.«
    Ich sah wieder auf die Bilder, um Veras
Gesicht nicht sehen zu müssen. Es half nichts. Ich sah das andere Gesicht und
mußte mir vorstellen, wie sie

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