Nimm Platz und stirb
vorbei.
»Er kann mir nichts mehr verbieten«,
sagte ich zu meinen Knien.
»Ach, ist er gestorben?«
»Ja.«
Sie drehte sich noch nicht um. Sie zog
nur die Kanne etwas höher und hielt sie still. Aus dem Rohr kam kein Wasser
mehr.
»Wann?«
Als ich aufblickte, sah ich, daß sie
sich umgedreht hatte.
»Gestern abend, Vera. Er wurde im
Vorführraum erstochen.«
Ich dachte an die Drehbuchgeschichten.
Weinen? Ohnmacht? Geschrei? Hysterie?
Was würde sie tun?
Langsam kam sie näher. Sie setzte die
Kanne auf die goldgelbe, durchbrochene Tischdecke.
»Ist das wahr?«
»Ja.«
Ich wartete. Vera blieb aufrecht
stehen. Die Uhr an meinem Handgelenk wisperte. Dann lächelte Vera.
»Erstochen«, sagte sie. »Siehst du. Das
habe ich immer gefühlt. Viele Jahre lang. Mich wundert nur, daß es so lange
gedauert hat.«
Diese Antwort hatte ich nicht erwartet.
Eine Welle von Gedanken überschlug sich in meinem Kopf. Oft kam das nicht vor.
Wieder einmal reagierte ein Mensch
anders als im Drehbuch.
Vera lächelte noch immer. Mit einer
Hand zog sie den Sessel, der hinter ihr stand, zu sich herum. Sie setzte sich
und lehnte sich zurück. Ihr Gesicht sah aus, als hätte sie ein Urteil gehört,
das nach drei Instanzen endgültig und unwiderruflich zu ihren Gunsten
ausgefallen war.
»Du wunderst dich?«
»Schon.«
»Es mußte so kommen!«
»Warum?«
»Zu viele Leute haben ihn gehaßt,
Johannes. Zu viele.«
Zu viele. Noch nie hatte ich das
gehört. Es war mir neu, wie ein soeben aufgefundener Bibeltext.
»Jetzt brauche ich wirklich einen
Cognac«, sagte ich.
Sie stand wieder auf.
»Ich habe gelogen vorhin. Es ist doch
welcher da.«
Ich hörte ihre Schritte, das Klappern
des Kühlschrankes durch die offene Tür, das Klirren von Glas. Viel dumpfe Watte
war um mich herum, ein riesiger Schalldämpfer. Bis ich den matt beißenden Duft
des Cognacs roch und die Schale vor mir sah. Vera hatte Bier mitgebracht und
goß es mit leisem Plätschern in einen Silberbecher. Sie kannte mich noch, trotz
der fünf Jahre. Ich trank langsam. Erst Cognac, dann Bier. Es wurde wärmer und
klarer um mich herum. Vera saß. Ich fragte:
»Hast du ihn auch gehaßt?«
Ihr Haar bewegte sich kaum, so leicht
schüttelte sie den Kopf.
»Nicht mehr. Am Anfang, früher einmal.
Dann war ich verbittert, so verbittert, daß ich häßlich wurde und krank. Dann
war er mir gleichgültig. Nur noch gleichgültig. So gleichgültig, daß ich von
dieser Minute auf die andere meine Blumen weitergießen könnte.«
Ich nahm die Cognacschale und schwenkte
sie leicht im Kreis. Die Flüssigkeit am Boden des Glases drehte sich in einem
goldenen Wirbel.
»Komisch. Ich könnte in dieses Glas
heulen, und du bist gleichgültig. Keiner von uns kann sich vorstellen, daß ihn
jemand gehaßt hat. Sich über ihn ärgern, fürchterlich, ihn verwünschen und
verfluchen — schön. Vor allem, wenn man gesehen hat, was die anderen für
Idioten sind.«
Vera nahm ihr Glas und trank es aus,
als wollte sie Erinnerungen fortspülen.
»Du kennst ihn zehn Jahre, er lebt aber
nicht erst zehn Jahre. Ich weiß, er kann wunderbar sein — «
Sie stockte, ihre Augenbraue zuckte.
»Konnte, muß man jetzt wohl sagen — aber
auch das Gegenteil davon. Ich habe es kennengelernt.«
Ich wartete. Ihr Lächeln verschwand
langsam.
»Er war der größte Egoist, den es
jemals gegeben hat«, sagte sie. »Er war die Sonne im Zentrum, um die sich alles
drehte und um die alles kreiste. Wen er nicht brauchte, den ließ er im dunklen.
Wen er brauchte, den zog er an sich, so lange, bis er ausgeglüht war.«
»Sehr poetisch ausgedrückt, Vera. Jeder
von uns ist ein Egoist. Die meisten Leute tun nur so, als täten sie was für die
anderen. Und Ausnahmen bestätigen die Regel. Er war ein Künstler und kein
kleiner. Das weißt du. Und die müssen so sein. Die passen nun mal nicht in die
Heilsarmee.«
Ihr Lächeln kam zurück.
»Bist du auch so?«
»Noch schlimmer«, sagte ich. »Ich bin
kein Künstler und denke trotzdem nur an mich. »Sie gab mir neuen Cognac.
»Weißt du, Vera, das gehörte zu ihm wie
die Larve zur Libelle. Ohne das wäre er nicht Stefan Reinold gewesen. Du hast
ihn vor deiner Ehe schon gekannt, was hast du erwartet? Albert Schweitzer den
Zweiten?«
»Ich habe erwartet, daß ich seine Frau
sein kann. Daß ich in der Kirche nicht für eine Rolle engagiert werde, die ich
zu spielen habe für Wirtschaftsgeld, mit der zweiten Besetzung im Hintergrund!«
»War es furchtbar mit
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