Nimm Platz und stirb
Hokuspokus mit Handschütteln und Vornamen sagen. Dann
machten wir noch aus, wer zum erstenmal »Sie« sagte, müsse einen ausgeben.
Anschließend drehten wir uns auf den Hockern um und streckten die Bäuche nach
vorn.
Am ersten Tisch in dem Plüschgang saß
ein Jüngling mit dem Mädchen seines Abends. Sie hatte ein unschuldiges Gesicht,
so eine von jenen Schauspielschülerinnen, die in Begleitung der Mutter zu uns
kamen, weil doch im Film alles so unmoralisch ist. Der Junge bei ihr ließ einen
Hunderter aus der Außentasche seines Blazers schauen. Er war der mäßige Playboy
mit dem MG-Sportwagen und dem Gesichtsausdruck »Der Papa wird’s schon richten«.
Im ganzen nicht weiter schlimm. Weiter hinten war die Röhre leer.
»Siehst du hier was von einer alten
Wirtin namens Adi?« fragte ich.
»Nein. Aber das Zeug schmeckt. Glauben
Sie...«
»Glauben Sie, daß du den nächsten
bestellen mußt?«
»Ach verdammt!«
Der Jühl bestellte zwei neue Daiquiri.
Ich beschloß, trotzdem nicht zu vergessen, weshalb wir hierhergekommen waren.
Ich drehte meinen Hosenboden auf dem Ledersitz und trank den Bierbecher aus.
Dann faßte ich den Mixer ins Auge.
»Nach der vielen Arbeit können Sie sich
auch einen machen«, sagte ich. »Mein Neffe hat heute die Gesellenprüfung
bestanden. So was freut einen Onkel, wissen Sie.«
»Natürlich«, sagte er lächelnd.
»Das mit meinem Neffen ist so gelogen
wie ein Kommunique vom Außenminister«, fuhr ich fort. »Wir sind ein bißchen vom
Film. Sie werden das am Abend so oft hören, aber wir sind’s wirklich. Kennen
Sie Herrn Reinold, den Regisseur?«
»Aber natürlich.« Er machte dem müden
Mann und dem Mädchen am anderen Ende je einen Martini. Dann kam er zurück.
»Stefan Reinold meinen Sie sicher? Ist das nicht der, der vor einigen Tagen
ermordet worden ist? Während der Dreharbeiten?«
Ich schluckte erst trocken, dann etwas
aus meinem Glas.
»Da sind Sie nicht weit von der
Wahrheit«, sagte ich. »Ewig schön wollte er mit uns hierhergehen. Wir sollten
die Adi kennenlernen...«
»Die liebe Tante Adi.« Sein
Gesichtsausdruck wurde unbeschreiblich traurig. »Wissen Sie, Herr...«
»Trubo. Das ist Herr Jüstel, genannt
Jühl.«
»Freut mich, Charly heiße ich.«
Wie sollte er auch sonst heißen.
Der Mixer sprach weiter. Seine Gläser
schienen ihn mehr zu interessieren als seine Worte.
»Man kommt sich vor wie in einem
Totenhaus. Überall sterben die Leute. Die Chefin, die Adi, ich hatte die Ehre,
zweiundzwanzig Jahre mit ihr zu arbeiten, denken Sie, vorgestern ist sie
gestorben.«
Mir blieb der Rest aus meinem Glas
dicht über dem Kehlkopf stecken. Vorgestern.
Wieder hatte der Teufel mir die Spur
verwischt.
»Lauter Hinterbliebene«, sagte der
Jühl. »Wem müssen wir unser Beileid aussprechen?«
»Frau Cläre Genkin«, entgegnete Herr
Charly, »ihre Tochter. Sie hat das Lokal seit einem halben Jahr geführt. Die
alte Dame lag fest, wissen Sie. Knochenkrebs. Ganz übel — ganz übel.«
Er machte ein Gesicht, als hätte er
selbst alle Knochen voll Krebs.
»Das ist häßlich«, sagte ich. »Kommt
Frau Genkin heute hierher?«
»Glaube kaum, daß sie heute
herunterkommt. Sie können sich vorstellen...«
Wir konnten. Frau Cläre kam dann
allerdings noch herunter, aber aus einem ganz anderen Grund, als wir und sie
geahnt hatten.
Für den Augenblick war nicht mehr viel
zu machen. Wir erhoben die Gläser und tranken dem Hersteller des Daiquiri zu.
Als wir sie absetzten, teilte sich hinter uns mit leisem Rauschen der Vorhang.
Ich drehte mit Mühe den Kopf auf den Halswirbeln herum und bekam einen gelinden
Schreck.
Ein großer, schwerer Bursche schob sich
herein. Er machte den Eindruck eines gut gepolsterten Eishockeyspielers, nur
die blasse Farbe seiner Haut verriet, daß er mehr im Mondschein Sport betrieb
als am Tage. Er hatte ein rundes Gesicht mit einem Anschein von Härte, dünnes
blondes Haar mit einem Mittelscheitel, wie der Bauer Stoffel, wenn er in die
Stadt geht. Seine Ohren waren groß und schienen nicht so schnell abzureißen zu
sein. Er trug einen braunen Zweireiher mit feinen hellen Streifen und ziemlich
gewaltige Schuhe. In der Hand hielt er eine qualmende Zigarre.
Trotz alledem staunte ich weniger über
ihn als über das, was hinter ihm herkam. Ich traute meinen Augen nicht. Es war
ein Mädchen mit wallenden Haaren, langen Zähnen, Ammenbusen: die Bewerberin von
dem Probestreifen, der lief, als Stefan ermordet wurde. Dauernd mußte mir eine
Erinnerung
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