Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nimm Platz und stirb

Nimm Platz und stirb

Titel: Nimm Platz und stirb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
Vom Netzwerk:
Die Bewegung der
Augäpfel verursachte stärkere Schmerzen als eine Schädelaufmeißelung ohne
Narkose.
    Der Erzengel hatte einen schicken
Trenchcoat an. Seine Augen funkelten. Im Gesicht hatte er Sommersprossen. Elsie
stand vor meinem Bett und sagte mit ätzendem Hohn:
    »Wohl, Wohl! Hans Trubo! Spuren
verfolgt! Künstlerlokal! Mein Freund Reinold! Wohl! Hast du denn keine Spur von
Schamgefühl mehr? Weißt du, wie du hier angekommen bist?«
    »Nein«, antwortete ich der Wahrheit
entsprechend. In meinem Mund war ein Smyrnateppich.
    »Wenn dir Herr Jüstel nicht geholfen
hätte, wärst du in der Gosse verkommen! Betrunken warst du! Widerwärtig
betrunken! Igittigittigitt!«
    »Es ist eine Schande«, sagte ich.
    »Willst du deinen Anzug sehen?
Wegwerfen kann man ihn! Und hier — hier — , hier! Sieh dich selbst an! Da! Sieh
hin!«
    Sie hielt mir den Spiegel vor die
Augen. Ich sah den Kopf eines weiblichen Wildschweins, das gerade Frischlinge
geworfen hat. Ich versuchte diesen Kopf zu heben und mich auf die Ellenbogen zu
stützen. Es war, als müßte ich mit dem Hals einen Waschtrog hochstemmen.
    »Wie spät ist es?«
    »Halb acht. Ich gehe zum Dienst!
Meinetwegen kannst du hier sterben.«
    Ich kam endlich in sitzende Stellung.
    »Warum hast du mich nicht im Schlaf
sterben lassen?«
    »Das will ich dir sagen! Herr
Kirschbaum hat angerufen, um zwölf ist die Beerdigung von Herrn Reinold.«
    »Sollen sie lieber mich beerdigen!«
    »Einen schönen Eindruck wirst du
machen! Herr Jüstel war so nüchtern! Und du?«
    Ich drehte meinen Schweinskopf. Auf dem
Nachttisch stand ein Krug mit Zitronensaft und Eisstücken darin, und daneben
lagen vier Kopfschmerztabletten. So sehr schnell sollte ich offenbar doch nicht
sterben.
    Ich nahm die Tabletten und spülte sie
mit dem Inhalt des Krugs hinunter. Der Smyrnateppich in der Mundhöhle löste
sich auf.
    »Du bist ein lieber Engel«, sagte ich.
Ich zog sie heran auf die Bettkante. Nach einigen Einwänden blieb sie sitzen.
    »Die Beerdigung fehlt mir noch«, sagte
ich. »Ist der schwarze Schlips da?«
    »Willst du so hingehen?«
    »Wenn ich beide Beine verloren hätte,
ich ginge trotzdem hin. Wollte dich eigentlich mitnehmen. Wir gehen zum Grab,
wenn du frei hast. Sonst jemand angerufen?«
    »Nein. Was habt ihr in dem Lokal
gemacht?«
    »Zuckerwatte gegessen.«
    »Sicher waren Mädchen da.«
    »Ein ganzes Ballett. Und dann noch eine
Oberschulklasse. Heute abend erzähle ich dir alles.«
    »Der Anzug hängt im Bad. Aber trink
hinterher nicht wieder, ja?«
    »Ja«.
    Sie verließ mich. Ich fiel zurück und
wartete auf die Wirkung der Tabletten. Als sie einsetzte, erhob ich mich
endgültig. Ich badete, rasierte mich scharf, bereitete aus einem Viertelpfund
Tee zwei Tassen und aß eine Dose Rollmöpse. Der Anzug war tadellos. Das Gesicht
sah noch bleich und angegriffen aus, aber für den Trauerakt war das das
Richtige.
    Ich ging zu Fuß, denn der Wagen stand
hoffentlich noch hinter der Ecke bei Tante Cläres Lokal. Die frische Luft tat
mir wohl. Um halb zwölf betrat ich die Kapelle des Südfriedhofes. Als ersten
sah ich Nathan Kirschbaum. Er saß allein auf einer Steinbank, trübsinnig wie
eine Trauerweide. Ich rutschte leise neben ihn.
    »Dank dir schön für den Anruf. Was ist
eigentlich mit Serkoff los?«
    »Wird nach Hause übergeführt.«
    Er schwieg. Ich konnte mir vorstellen,
daß er zum Reden keine Lust hatte. Trotzdem fragte ich.
    »Nathan, hast du die erste Frau von
Stefan gekannt?«
    Er drehte langsam den Kopf. Seine
braunen Augen waren müde.
    »Erste Frau? Gibt’s nicht.«
    »Gibt es«, sagte ich. »Vera hat mir
davon erzählt.«
    »Nie was davon gehört. Kenne nur Vera.
Soll ich nachzählen, wie oft jeder verheiratet war?«
    »Ich dachte nur — wo du doch sonst so
gern zählst.«
    Er sah wieder geradeaus. Ein paar von
unseren Leuten waren gekommen und standen mit beklommenen Mienen in den Ecken
herum.
    »Kennst du einen Lobkowicz, Istvan
Lobkowicz? Soll Agent sein.«
    Diesmal nickte Nathan.
    »Kenn’ ich. Alter Trottel. Macht nicht
mehr viel. Was ist mit ihm?«
    »Nichts Besonderes«, sagte ich. »Habe
seinen Namen zufällig gehört.«
    Der Pfarrer kam, und wir standen auf.
     
    *
     
    Als der Sarg langsam und ruckend
runtergelassen wurde, dachte ich daran, wie oft Stefan eine Szene auf einem
Friedhof gedreht hatte. Jetzt war er immer noch die Hauptperson. Alle waren
versammelt, das ganze Atelier, als müßten sie nach seinen Anweisungen arbeiten,
ein letztes Mal.
    Als

Weitere Kostenlose Bücher