Nimmermehr
geweihter Erde.«
Das Bild wirkte mit einem Mal ganz anders. Die Karaffe, die dort auf dem Boden lag und aus der sich die Milch ergoss, die Mutter, die ihr Kind in den Armen hielt, der Junker, der vor den beiden stand. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Gesichter von Frau und Kind nicht zu erkennen waren. Ganz verborgen im Schatten des traurigen Junkers waren sie.
»Er fand keine Ruhe mehr«, beendete Luzia die Geschichte. »Bald schon trat er ins Kloster ein, und als man ihm erlaubte, den steinernen Brotlaib auf den Altar zu legen, da fühlte er sich von seiner Schuld befreit und fand seinen inneren Frieden wieder.« Müde rieb sie sich die Augen. »Noch lange Zeit war das steinerne Brot eine Mahnung für alle Hartherzigen. Als später die Kirche verfallen war, hat man es allerdings nicht mehr gefunden.«
So endete die Geschichte vom traurigen Junker, der traurig war, weil er den Tod zweier Menschen verschuldet hatte.
»Und nun«, lauteten die abschließenden Worte der alten Frau, »ist er wieder da.«
Mit der Dunkelheit kamen erneut die Schneeflocken, die Burg Karfunkelstein, wie ich das Gemäuer fortan zu nennen begann, umhüllten, als gehöre sie nicht zu der Welt, in der ich bisher gelebt hatte. Den restlichen Nachmittag hatten wir hoch oben im Haus Mörz verbracht. In jenen Räumlichkeiten, die Luzia Grillparzer als ihr Refugium Scriptorium bezeichnete.
»Was hat es mit all den Geschichten auf sich?«, wollte ich wissen.
Der Raum mit der niedrigen Decke glich einer behaglichen Höhle. Schwere Regale aus dunklem Holz säumten die Wände. Folianten, staubige Wälzer und Schriftrollen, die bereits halb vergilbt waren, quollen aus den Regalen hervor. Hier und da gab es auch kleine Schränke mit Türen aus dickem bunten Butzenglas, das Lichtspiele an die Decke zauberte. Dahinter stapelten sich weitere Bücher. Dicke, dünne, alte, uralte, bekannte und vergessene Bücher, deren Gedanken den Staub im Licht der vielen Kerzen, von welchen die Kammer illuminiert wurde, tanzen ließen. Inmitten all der Bücher stand ein Tisch mit einem Grammofon, dessen riesiger Trichter lange Schatten an die Decke warf.
Luzia Grillparzer saß hinter ihrem Schreibtisch vor dem schmalen Fenster, durch das man nur mehr Dunkelheit erkennen konnte. Auf dem Tisch lagen aufgerollte Schriftrollen, massige Wörterbücher und ausgefranste Zettel aus dunklem Papier, das jahrhundertealt sein mochte, die Ränder ganz zerfleddert. Papier von der Sorte, die Falten der Weisheit aufweist.
Gegenüber des Schreibtischs stand ein rotes Sofa. Dort hatten Greta und ich selbst Platz genommen.
»Es sind die Geschichten, die uns unsterblich machen«, betonte Luzia Grillparzer erneut. »Das ist der Grund, weshalb ich mich mit ihnen beschäftige.« Sie deutete auf das Durcheinander aus Büchern, Papieren und dazwischen stehenden benutzten Tassen und Tellern, das den Tisch fest im Griff hatte. Dazu eine Lesebrille neben einem ledernen Etui und ein weißer Füllfederhalter. »Es ist meine Aufgabe, diese Geschichten für die Nachwelt festzuhalten. Denn der Tod ist das Vergessen. Wenn man geliebte Menschen vergisst, wenn man sich ihrer Geschichten nicht mehr erinnert, dann ist das Leben wirklich vorbei.«
»Das hat Greta auch gesagt.«
»Ich weiß.« Sie roch nach Rosenblättern, die der Wind verweht.
»Was ist mit dem traurigen Junker geschehen?«, wollte ich wissen.
Die alte Frau zuckte die Achseln. Im flackernden Kerzenschein wirkte ihr Gesicht von Falten zerfurcht, und dennoch konnte man in ihm die junge Frau sehen, die Luzia Grillparzer einst war.
»Ich weiß es nicht«, gab sie zur Antwort. »Nun ja, er ist wieder da. In dem Bildnis, wo er hingehört.«
»Aber wie ist er dorthin zurückgekommen?«
»Vermutlich«, antwortete sie, »auf die gleiche Art und Weise, wie er von dort verschwunden ist.«
»Das ist keine Antwort.«
»Ich habe aber keine andere.«
Greta sagte: »Und ich auch nicht.«
Ich betrachtete die beiden.
Großmutter und Enkelin, die mehr als ein Leben trennte und die einander ähnlicher nicht hätten sein können.
Wie konnte es sein, dass die beiden das Auftauchen des traurigen Junkers so bereitwillig hinnahmen? Immerhin war es ein Rätsel, das nach einer Auflösung verlangte. Es war ebenso mysteriös wie die Frauengestalt, die ich in der Nacht unten im Burghof hatte umherstreifen sehen, und das Lamm, das uns im Wald nahe dem Tierfriedhof begegnet war.
»Manchmal«, war Luzias Meinung dazu, »geschehen eben seltsame Dinge
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