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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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in dieser Gegend.« Sie nippte an dem Tee, der dampfend vor ihr auf dem Tisch stand. »Es gibt Sagen aus der Eifel, die von Bachnixen und Waldfrauen und verlorenen Rittern berichten. Geschichten von schiefen Kirchtürmen, die der Teufel im Zorn verdreht haben soll. Anekdoten von schwarzen Hunden, die des Nachts durch die Gassen streunen und deren Augen rot glühend jeden Nachtwächter das Fürchten lehrten. Geschichten, Jonathan, sind eben nicht nur Geschichten. Sie sagen einiges aus über die Menschen, von denen sie erzählt werden. Die Sagen und Balladen der Menschen zu kennen heißt, die Menschen selbst zu kennen. Wenn man sich ihrer Geschichten erinnert, dann wird niemals ein Erzähler in Vergessenheit geraten.« Sie lächelte, und als sie die folgenden Worte aussprach, da lief mir ein Schauder über den Rücken: »Niemals. Nimmer. Nimmermehr.«
    Greta fasste mit einem Mal meine Hand, ganz kurz nur.
    »Du bist kreidebleich geworden.«
    Wie hatte die alte Frau nur wissen können, was ich selbst schon einige Male zuvor gedacht hatte?
    Luzia beobachtete mich neugierig. Irgendwie wissend.
    »Alles in Ordnung mit dir, junger Jonathan?« Ihre Stimme war mit einem Mal ein Lied von Schnee und stillen Seufzern.
    »Ja«, log ich. Alles andere als glaubwürdig.
    Wieso konnte Luzia Grillparzer meine Gedanken lesen?
    Oder war es ein Zufall, dass sie gerade jetzt diese Worte benutzte?
    »Die Geschichte vom traurigen Junker«, fuhr Luzia von meiner Reaktion unbeirrt fort, »ist nur eine von vielen Sagen, die sich um die Burgen und Dörfer der Eifel ranken. Das nahe gelegene Maifeld ist auch nicht arm an düsteren Erzählungen. Die weinende Muttergottes am Wegekreuz, geheimnisvolle Tempelritter, windige Neunhollen und geizige Bauern.«
    Sie sprach in Rätseln.
    Was Greta, wie ich beobachten konnte, nicht weiter zu verwundern schien.
    »Es ist unsere Aufgabe, diese Geschichten zu bewahren.«
    »Ist es das, was Sie tun?«, fragte ich sie.
    Luzia nickte. »All die Pergamente, Bücher und Folianten. Sie quellen über von Geschichten, die alle nur darauf warten, dass sie endlich wieder jemand liest.«
    »Dass sie endlich jemand weitererzählt«, fügte Greta hinzu. »Sie brennen förmlich darauf.«
    Mit einem Mal fühlte ich mich völlig verloren in all diesen Geschichten, die wie die dicken Schneeflocken dort draußen vor dem Fenster umherwirbelten. Die mich mit sich rissen, hinauf in schwindelnde Höhen. Und mich gar keinen klaren Gedanken mehr fassen ließen.
    »Wir sind alle etwas seltsam«, sagte Greta.
    Und allein ihr Lächeln war es wert, dass ich nach Burg Karfunkelstein gekommen war und mir all diese Geschichten anhörte. Doch da war noch etwas. Eine weitere Geschichte lag in der Luft wie ein Geheimnis, das sich nicht greifen lassen wollte. Eine Geschichte, die alle anderen Geschichten miteinander verbinden würde. Ein Rätsel, das der Enthüllung harrte. Ich spürte es ganz deutlich. Ich sah es in Gretas Augen und denen ihrer Großmutter. Mit einem Mal war mir klar, was mir schon viel früher hätte bewusst sein müssen. Dass die beiden ein Geheimnis teilten. Dass sie verschwiegene Verschwörerinnen waren und hinter all dem viel mehr steckte, als sie mir gegenüber zuzugeben bereit waren.
    Ein lautes Geräusch riss mich aus den Gedanken.
    »Der Wagen«, sagte Luzia mit einem Mal.
    Unverkennbar hustete der Dieselmotor in der Dunkelheit.
    »Meine Eltern.« Greta sprang auf und lief zum Fenster. »Sie sind gerade angekommen.« Schnell drehte sie sich zu mir um. »Ich gehe nach unten und helfe ihnen beim Auspacken.«
    Und schon war sie verschwunden.
    Luzia Grillparzers klare Augen fixierten mich.
    Eine Weile schwiegen wir uns an.
    Schließlich murmelte ich: »Tja.«
    »Tja?«
    Ich bestätigte unsicher: »Tja.«
    Von draußen legte sich ein dünner Schneefilm auf das Fensterglas.
    »Ich denke doch, Greta mag dich.« Die Worte fielen in die Stille wie ein Stein. »Sie mag dich wirklich sehr, Jonathan.« Mit einem belehrenden und zugleich amüsierten Blick musterte sie mich. »Das ist dir doch aufgefallen, oder?!«
    Ich hüstelte.
    Verlegen.
    »Nun?«
    Erneutes Hüsteln.
    Dann ein zaghaftes »Nun ja«. Mich fröstelte.
    »Oh, ihr Jungs.« Sie schüttelte den Kopf. »Habt die Augen weit geöffnet und seht doch nichts.«
    »Sie ist nett«, gab ich zu.
    Luzias Augenbraue hob sich skeptisch. »Nett?« Mit einem Mal war ich mitten in ein Verhör geraten. »Das ist ein schlimmes Wort, Jonathan. Wenn man Menschen wirklich mag, dann gibt

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