Nimmermehr
vermischten sich zu einem einzigen dunklen Schrei.
»Da war dieses Mädchen«, näherte sich Luzia dem Unglück, das bereits in den düsteren Winkeln ihrer Erzählung lauerte, »ein Mädchen mit einer roten Jacke, ein kleines Ding mit blonden Zöpfen, das am Straßenrand stand. Matthias sah es zuerst. Zuerst das Mädchen und dann das Pferd.«
Es war das Pferd eines Russen, das, aufgeschreckt von dem tosenden Lärm, ausgebrochen war und in Panik durch die Menschenmassen stob. Ohne Orientierung galoppierte es auf das Mädchen zu.
»Matthias«, setzte Luzia an.
Und verstummte dann.
Sie atmete schwer, und erst nach einer Weile gelang es ihr fortzufahren.
»Er rettete das Mädchen.«
Und bezahlte dafür mit seinem Leben.
Das Pferd drückte Luzias geliebten Mann gegen eine Häuserwand.
»Ich konnte seine Rippen brechen hören.«
Sie war bei ihm, als er schwarzes Blut spuckte. Als er sie nur mit den Augen anflehte, seine Hand in die ihre zu nehmen und sie dann auf ihren Bauch zu legen, damit er die schwachen Tritte spüren konnte. Als er hustete und zu weinen begann. Sie war bei ihm, als er die Lippen bewegte: Niemals, nimmer, nimmermehr.
»Ich habe ihm die Augen geschlossen«, sagte Luzia, und ein eisig kalter Hauch umwehte ihre Stimme. »Ich habe sie geschlossen, mit meinen eigenen Händen. Dann habe ich ihm einen Kuss gegeben.«
Matthias Grillparzer wurde am 19. April 1945 auf dem Zentralfriedhof nahe Simmering beigesetzt.
Vier Monate später erblickte ihrer beider Sohn das Licht der Welt.
Luzia benannte ihn nach ihrem eigenen Vater.
Hans.
»Der Krieg war vorbei.«
Luzia erhob sich von ihrem Platz hinter dem großen Tisch und reichte mir ein gerahmtes Bild. Eine alte Schwarzweißfotografie war es, die eine junge Frau zeigte, die Greta hätte sein können und die von einem glücklich lachenden Mann in einem dunklen Anzug umarmt wurde, vor den Toren der Ruprechtskirche in Wien.
»Wenn ich Greta betrachte«, sagte Luzia, »dann glaube ich manchmal, in einen Spiegel zu schauen. Einen Spiegel, in dem die Zeit stehen geblieben ist.« Ihre Stimme war jetzt wieder wie knackendes Holz. »Wenn man einen Menschen findet, den man nicht mehr loslassen möchte, dann muss man ihn festhalten.« Sie zwinkerte mir zu. »Ich war so glücklich, damals. In jenen Jahren, die uns gemeinsam gehörten. Und dieses Glück spüre ich noch immer.«
Ich betrachtete die Fotografie in meiner Hand.
»Erkennst du das Glück, wenn es dir begegnet?«
Ich schwieg.
»Wenn du es erkennst, dann musst du es festhalten. Das ist überhaupt das Allerwichtigste.« Sie schenkte mir ein Lächeln voller Wärme und Güte. »Deshalb, Jonathan Morgenstern, habe ich dir meine Geschichte erzählt. Damit du verstehst, worum es hier geht.«
Und draußen schneite es, als gebe es kein Morgen.
In der Wohnung der Grillparzers hatten Gretas Eltern den Weihnachtsbaum aufgestellt und bereits zur Hälfte geschmückt. Allein den Baum zu sehen rief einige Erinnerungen wach. An Zeiten, in denen gemeinsam Weihnachtslieder gesungen worden waren. In denen wir in die Kirche gegangen waren und irgendwie alles einen Sinn ergeben hatte.
Jetzt machte gar nichts mehr Sinn.
Mein Vater war telefonisch nicht einmal zu erreichen. Vermutlich nahm er besagten Termin wahr, der ihm eine rechtzeitige Ankunft auf Burg Karfunkelstein unmöglich gemacht hatte. Halb benommen wurde mir bewusst, dass ich dieses Weihnachtsfest mit einer fremden Familie verbringen würde. Etwas, was ich vorher noch nie getan hatte. Mit diesem befremdlichen Gefühl aßen wir zu Abend, und dann entführte mich Greta in die Burg.
»In der Nacht sind die Schatten so voller Geheimnisse«, flüsterte sie und zog mich mit sich in die Rüst- und Waffenkammer im Rübenacher Haus. Eine umfangreiche Sammlung an sehenswerten Rüstungen und Hellebarden war hier untergebracht, darunter sogar einige orientalische Waffen. »Einige der Burgherren waren weit gereiste Ritter, und manche von ihnen hatten sogar an den Kreuzzügen teilgenommen«, erklärte mir Greta, als sie meinen neugierigen Blick bemerkte. »Graf Peter von Metzengerstein kämpfte seinerzeit vor Jerusalem und kehrte nie wieder aus der Gefangenschaft zurück.« Bilderfetzen, die an die alten Ritterfilme der 1950er-Jahre erinnerten, bestürmten mich. Kämpfende Sarazenen, unerfahrene Knappen und Helden, die irgendwie aussahen wie Errol Flynn und Robert Taylor. Der Gedanke, dass einst jemand die langen Hellebarden und massigen Hakenbüchsen benutzt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher