Nimmermehr
es genügend andere Wörter, um dies auszudrücken. Nett ist gar nicht nett. Nett ist Zögern. Unentschlossenheit. Verlogen.«
Unruhig rutschte ich auf dem Sofa hin und her.
»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte sie mit nunmehr ruhiger werdender Stimme, die wieder die Farbe von dunklem Holz annahm.
»Wenn Sie möchten?!«
»Würde ich es nicht wollen, dann würde ich es kaum vorschlagen, oder?!«
Da hatte sie recht.
»Weißt du, Jonathan«, begann sie. »Greta war immer ein sehr stilles Kind. Aus dem ein stilles junges Mädchen geworden ist. Sie hatte niemals viele Freundinnen. Den meisten Eltern war es zu mühselig, die Kinder auf die Burg zu bringen. Und Greta hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die meisten Menschen nicht mit Namen anzusprechen. Dabei mag sie Namen. Wenn sie Geschichten liest, dann ist es ihr immer wichtig, welche Namen die Personen in den Geschichten haben. Denn der Klang eines Namens ist immer unverwechselbar.« Sie seufzte. »Deinen Namen, Jonathan Morgenstern, spricht sie sehr oft aus. Was gar nicht so ihre Art ist.« Die hellen Augen der alten Frau blickten wieder so streng wie vorhin. »Du verstehst doch, was ich dir damit sagen will?«
»Ja.«
»Dann lausche jetzt meiner Geschichte«, forderte sie mich auf.
Zero hatte sich zu meinen Füßen zusammengerollt und schnarchte leise vor sich hin.
Und Luzia Grillparzer begann zu erzählen.
Verwundert musste ich feststellen, dass es nicht irgendeine Geschichte war, die sie sich da für mich aufgehoben hatte. Nein, es war ihre eigene. Die Worte nahmen Gestalt an und knisterten in der Luft wie das Feuer, das die Holzscheite in dem kleinen Kamin verzehrte. Sie entführten mich dorthin, wo Luzias Wurzeln waren. Dorthin, wo alles begonnen hatte. Für Luzia Grillparzer. Und irgendwie, am Ende, auch für mich.
Bereitwillig ließ ich mich entführen, den ganzen langen, weiten Weg bis in jene Stadt, in der einst ein Mädchen gelebt hatte, das Greta zum Verwechseln ähnlich gesehen haben musste.
»Ich war in deinem Alter, Jonathan«, begann die Geschichte, »als ich Matthias kennenlernte. Das war 1938. Ich lebte damals in Wien, wo meine Eltern eine Apotheke führten. Zwei Wochen vor dem Einmarsch der Deutschen lernte ich ihn kennen.« Ganz verträumt blickte sie in die Vergangenheit, und ihre Worte beschworen eine fremde Welt herauf. »Noch immer kann ich den Rauch riechen«, flüsterte sie, und das Flackern der Kerzen begleitete jedes ihrer Worte. »Noch immer höre ich das silberne Besteck klappern. Ohne die Erlaubnis meiner Eltern trieb ich mich bei der Wiener Boheme herum. Im Herrenhof, dem wohl angesagtesten Literaturcafé der Stadt.«
Die raue Stimme der alten Frau zauberte rote Plüschbänke aus den Schatten ihres Refugium Scriptoriums, dazu runde Tische mit geschwungenen Stühlen. Schrullige und in ihrem Wortwitz den Gästen ebenbürtige Kellner servierten auf funkelnden Nickeltabletts Mokka und Kapuziner und mischten sich hier und da beiläufig in die Diskussionen der vielen Literaten und Künstler ein. Gespräche über Manuskripte, Politik und Malerei lagen in der Luft wie Nebel, vermischten sich mit dem Gemurmel der Gäste und dem Rauch der glimmenden Zigaretten.
»Ich fühlte mich wie einer dieser Bohemiens«, erinnerte sich Luzia Grillparzer. »Und es war dort, dass ich Matthias zum ersten Mal traf. Dass ich mich verliebte. An einem Abend im März, der in meiner Erinnerung niemals enden wird.«
Niemals.
Nimmer.
Nimmermehr.
Dachte ich.
»Wenn ich daran denke, dann kommt es mir vor, als sei es gestern erst geschehen.«
Der junge Student nahm an Luzias Tisch Platz, und so kamen die beiden ins Gespräch.
»Alle anderen Tische waren schon besetzt an diesem Abend.«
Matthias Grillparzer studierte Geschichte, und so redeten sie über die Dinge, die sich in der Vergangenheit zugetragen hatten und sich nun anschickten, erneut zu passieren.
»Die meisten Gespräche drehten sich damals um den Krieg.«
Die Unruhe in Wien war allgegenwärtig. Man sprach über Österreich und den schattenumwobenen Nachbarn Deutschland. Über die Politik, von der man in den Tageszeitungen las. Darüber, was die Studenten befürchteten.
»Der Anschluss war ein Schock«, gestand Luzia.
Über all das redeten die beiden. Später am Abend aber redeten sie über einander. Und noch viel später ergriff Matthias die Hand des jungen Mädchens.
»Er küsste mir die Hand, so zärtlich«, erinnerte sich Luzia. »Er küsste sie, und ich sah ihn
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