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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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war einfach nur erschreckend. Kündeten diese Waffen doch von Zeiten, in denen das Leben um so vieles härter als heute gewesen war. »Die Hellebarden«, sagte Greta, »dienten den Fußsoldaten dazu, die feindlichen Ritter während des Kampfes vom Pferd zu ziehen. Waren sie einmal gestürzt, so konnten sie aufgrund der schweren Rüstung nichts mehr tun und waren dem Fußvolk hilflos ausgeliefert.« Eine wahrlich grausame Zeit war dies gewesen.
    »Irgendwie«, meinte ich, »hat sich seit dem dunklen Mittelalter nicht wirklich viel verändert in der Welt.«
    »Großmutter hat dir von Wien erzählt?« Eigentlich war es eine Feststellung.
    »Ja.«
    »Sie hat viel erlebt. Und sie hat meinen Großvater wirklich geliebt.«
    »Dabei war sie noch so jung gewesen.«
    »Ja, kaum älter als ich es jetzt bin.«
    Nachdenklich gingen wir durch die Burg. Die Kerzen ließen zackige Schatten unruhig an den Wänden tanzen, und unsere Schritte hallten auf dem Steinboden durch die nächtlichen Korridore.
    »Die Geschichte vom Tod meines Großvaters«, sagte Greta, als wir im Kurfürstenzimmer strandeten, »begleitet mich seit meiner Kindheit.« Und ganz nachdenklich flüsterte sie: » Wiener Blut, kennst du dieses Lied?«
    »Den Walzer?«
    »Ja.«
    »Was ist damit?«
    »Luzia besitzt eine alte Schallplatte. Dickes schwarzes Vinyl und dazu noch übersät mit Kratzern, so dass man immer ein lautes Knacken hört, wenn die Nadel darüberkratzt. Es ist dieses Lied, das sie seit jenen Tagen in Wien begleitet und dem sie auch heute noch oft lauscht.«
    »Warum?«
    »Sie haben es gespielt«, erklärte Greta, »nachdem mein Großvater gestorben war.«
    Und dann erzählte sie mir den Rest der Geschichte.
    Davon, dass Luzia mit leerem Blick durch die Stadt gewandert war, nachdem man Matthias fortgeschafft hatte. Alles war ihr gleichgültig geworden. Um sie herum versank die Stadt im Chaos.
    »Die gefallenen Schüsse«, erinnerte sich Greta der Worte ihrer Großmutter, »hatten Hass auf die Befreier aufkommen lassen. Die Russen merkten das und revanchierten sich mit Brandschatzungen und Schlimmerem.«
    In diesem Tumult durchquerte Luzia Grillparzer, in deren Bauch das Kind ihres geliebten Matthias heranwuchs, die Innere Stadt. Auf dem Platz vor dem Stephansdom hatten die Russen eine Handvoll Musiker zusammengetrieben, die, inmitten der Trümmer stehend, dazu gezwungen wurden, Wiener Walzer zu spielen. Betrunkene Sowjetsoldaten tanzten zu der Musik, mit österreichischen Mädchen und Frauen in den Armen.
    » Wiener Blut « , sagte Greta. »Das war es, was sie spielten, als Luzia dort eintraf.«
    Die Welt, so hatte es Luzia oft ihrer Enkelin geschildert, hatte sich in ein Tollhaus verwandelt. Wien war befreit. Matthias tot. Dazu die Musik. Dieser beschwingte Dreivierteltakt.
    » Wiener Blut « , beendete Greta ihre Erzählung. »Für Luzia steht dieses Lied für alles, was ihr damals widerfahren ist. Es ist die Melodie, die alle Erinnerungen in sich birgt.«
    Wir standen vor einem flämischen Wandteppich, der eine Jagdszene zeigte.
    Die Geschichten, dachte ich, kommen auf Burg Karfunkelstein wirklich aus jedem Mauerspalt gekrochen. Überall schauten Gesichter auf einen herab, die mit Geschichten beschriftet waren, tief eingebrannt in die bleiche Haut aus Stein und Farbe. Dazu lauschte ich in Gedanken der beschwingten Melodie des Walzers, den Luzia Grillparzer damals in Wien vernommen hatte. Fast war mir, als müssten in jedem Augenblick die Gestalten in dem Wandteppich zum Leben erwachen und den Tanz beginnen.
    »Deine Eltern erwähnen Luzia niemals«, stellte ich fest.
    Greta, die vor der gotischen Kaminhaube stand und deren Gesicht im Kerzenschein fast engelsgleich wirkte, antwortete nicht sofort. »Um ganz ehrlich zu sein«, begann sie schließlich, »hat es in den vergangenen Monaten einige Streitereien gegeben, und eigentlich ist es unwichtig, worum es dabei ging. Jedenfalls reden sie derzeit nicht mehr miteinander. Luzia verkriecht sich in ihrem Refugium Scriptorium und kommt nur nach unten in die Wohnung, wenn meine Eltern fort sind.«
    Bei einem dieser Streifzüge hatte sie dann den Brief des Herrn Amontillado an sich genommen. Ich fragte mich, ob Gretas Eltern von dem Brief wussten. »Keine angenehme Situation.«
    »Ich vermeide es, ihren Namen zu erwähnen. Das gibt nur wieder neue Diskussionen darüber, ob Luzias Übersetzungsarbeit gut und überhaupt sinnvoll ist. Großmutter übe einen zu starken Einfluss auf mich aus. Andauernd bekomme

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