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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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blutige Überreste man abseits der Wege gefunden hatte.
    Ein unheimlich großer, uralter schwarzer Wolf wurde in den Wäldern gesichtet. Die Abdrücke seiner riesigen Pfoten fanden sich im Schnee, oftmals dort, wo dunkles Blut das reine Weiß besprenkelte und die verwesenden Überreste von Dorfbewohnern im Unterholz verstreut lagen.
     
    »Es ist ein Teufel.«
    »Der König der Wölfe.«
    »Ein Werwolf.«
    Die Menschen begannen, die Türen und Fenster zu verriegeln, und niemand ging mehr allein in die Wälder hinaus.
    »Wer vom Wege abkommt«, flüsterte man im Dorf, »den wird der große Wolf holen.«
    Auch Rose kannte diese Geschichten.
    Sie kannte die Bilder, welche die Kinder mit abgebrochenen Stöcken in den Schnee malten oder mit Ruß auf Steine schmierten. Bilder, die eine große Bestie mit zackigen Zähnen und zotteliger Mähne zeigten. Einen Schatten, in dessen Mitte sich boshafte Augen verbargen.
    »Geschichten«, dachte sich Rose.
    Denn anders als die Dorfbewohner fürchtete sich das Mädchen nicht vor dem tiefen Winterwald, der meistens so still war, dass man die eigenen Gedanken darin zu hören vermochte.
    Dann, an einem Tag zu Beginn der heiligen Zeit am Jahresende, erkrankte die Großmutter, und Rose wurde von ihrer Mutter aufgetragen, heilsame Kräuter und blutiges Fleisch und süßen Wein zu der alten Frau zu bringen. »Sie ist alt und schwach und wird sich daran laben, und schon bald wird es ihr wieder besser gehen.«
    Der Weg zur Großmutter führte durch den Winterwald, denn die alte Frau lebte seit Jahren schon allein in einer Kate mitten im Wald und weit abseits des Dorfes.
    »Du darfst den Weg niemals verlassen«, schärfte die Mutter ihrer Tochter ein. »Denn sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und das schöne Fleisch fällt in den Schmutz und lockt die niederen Tiere an, die im Unterholz hausen, und die Großmutter hat nichts mehr von all den Leckereien.«
    Rose antwortete: »Ich werde alles richtig machen.« Sie lächelte, und die Mutter erwiderte das Lächeln.
    »Hüte dich vor dem großen Wolf«, warnten sie die anderen Dorfbewohner, die sie auf ihrem Weg traf.
    »Ich habe keine Angst vor dem Wolf«, entgegnete Rose.
    Denn Rose, die langsam zu einer Frau erblühte, fürchtete sich nicht. Mochten die Wölfe doch kaum anders sein als die alten Männer, die ihr immer nachschauten und denen man die unzüchtigen Gedanken wohl anmerkte hinter all der väterlich anmutenden Freundlichkeit. Waren nicht auch sie geifernde Bestien, die allesamt mit nur einem Lächeln zu bändigen waren?
     
    Rose trug ihr rotes Käppchen, wie sie es immer tat, wenn sie unterwegs war. Die Großmutter hatte es ihr einst geschenkt.
    »Es ist so rot wie deine Lippen, Liebes«, hatte sie ihr gesagt. »So rot wie deine Wangen, wenn du lächelst.« Das faltige Gesicht der alten Frau hatte ganz glücklich gestrahlt, als das Mädchen seine Haare unter dem Käppchen versteckt hatte. »So rot wie Blut.«
    Und Rose, die gewusst hatte, wie die Großmutter es meinte, hatte gelächelt und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben.
    Denn Rose liebte ihre Großmutter.
     
    Die Wälder in jenen Tagen waren schneebedeckt, und wenn ein leiser Windhauch durch das Geäst fuhr, dann wirbelte feinster Schnee auf das Haupt des Mädchens herab, das mit seinem Korb den gewundenen Weg zum Tannengrün, wie die Gegend hieß, hinaufwanderte.
    Am Bach, der nahe der Kate ihrer Großmutter verlief, stieß sie auf Spuren im Schnee. Wolfsspuren waren es. Groß und tief.
    Rose blieb stehen und betrachtete sie neugierig und berührte eine davon sogar mit dem Finger.
     
    Da legte sich ein Schatten über sie.
    Rose erschrak und blickte in die rot funkelnden Augen eines riesigen Wolfes, der über ihr stand und die schwarzen Lefzen verzog. Speichel troff in den Schnee, und der Atem des Tieres roch nach dem verwesenden Fleisch seiner letzten Opfer.
    »Du bist also der, vor dem sich alle fürchten«, sagte Rose höflich.
    Der Wolf nickte nur und funkelte das Mädchen an.
    »Du wirst mich doch nicht fressen?«
    Der Wolf antwortete nicht.
    Sein Fell war nicht so schwarz, wie die Leute behaupteten, denn es war ein sehr alter Wolf. Tief in seinen Augen spiegelte sich ein ganzes wölfisches Leben, und die Kälte zauberte eine Träne in das linke Auge der Bestie.
    »Ich muss zur Großmutter«, sagte Rose und streckte die Hand aus, um dem Wolf den Weg zu weisen.
    Der Wolf folgte dem Fingerzeig und schwieg.
    Dann stieß er ein tiefes gutturales Knurren aus, das

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