Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
Schulter.
    »Ich weiß«, antwortete Rose.
    Sie weinte trotzdem.
    Jakob, der dem Wolf, wie es der Jäger Art ist, eine Pfote abgeschnitten hatte, ging nach draußen, um sein langes Messer im Schnee zu reinigen. Rose indes kniete weiter neben dem Wolf und strich durch das dichte graue Fell und starrte in die toten Augen des einst so mächtigen Tieres. Weich fühlte sich das Fell an. Flauschig wie das Haar ihrer Großmutter, durch das des Mädchens Finger mit einem Mal glitten. An all die Geschichten musste Rose denken. An die Dinge, die ihre Großmutter ihr erzählt hatte in den langen Nächten, die sie beisammen gewesen waren. Von den Wesen des Waldes und ihren Eigenarten und der Furcht der Menschen vor der Andersartigkeit dieser Wesen.
    »Die Menschen fürchten und hassen die Wölfe seit alters her, mein Kind.«
    Die Stimme ihrer Großmutter war alt und stolz gewesen. »Und von Zeit zu Zeit muss man sie glauben machen, dass sie den großen bösen Wolf getötet haben. Nur so können die anderen von uns unbehelligt weiterleben. Das ist das Gesetz, dem wir uns beugen müssen.«
    Rose verstand diese Wahrheit an jenem Wintertag im Winterwald auf die schmerzlichste Weise, als sie neben dem Leichnam ihrer Großmutter kniete und ihr durch das schlohweiße Haar strich und die allerbittersten Tränen weinte, zu denen ein Mädchen nur fähig war.
     
    Der Abschied von der geliebten Großmutter aber durfte nur kurz dauern. Rose wusste, dass Jakob nicht sehen durfte, was aus dem Wolf geworden war. Was der Wolf schon immer gewesen war. Wer schon immer ein Wolf gewesen war. Und wer alles zur Familie der Wölfe gehörte.
    So ging sie schnellen Schrittes zum Kamin und zog mit dem eisernen Haken, der gleich neben dem lodernden Feuer an der Wand hing, einen brennenden Scheit aus dem Feuer heraus und ließ ihn auf dem Teppich liegen.
    Sofort züngelten die Flammen nach dem Stoff und den Vorhängen und allem, was ihnen Nahrung zu sein versprach.
     
    Der Korb mit den Gaben lag draußen im Schnee, und als die Flammen die kleine Kate im Wald verschlangen, da stand Rose neben Jakob, der ihre Hand ergriff.
    Rose ließ ihn gewähren, und mit einem Kuss konnte sie ihn davon überzeugen, die Pfote des Wolfs, die nunmehr die Hand einer alten Frau war, in die Flammen zu werfen.
    »Niemand würde uns glauben«, sagte sie. Und später, als er sie bat, seine Frau zu werden, hauchte sie ihm in einer stillen Nacht zu: »Es war Einbildung gewesen, nichts weiter.«
    Und Jakob, der Rose liebte wie sich selbst, glaubte ihr.
     
    Im Dorf wurde Jakob als Held gefeiert. Die Dörfler trauerten um die alte Frau, die das letzte Opfer des Wolfes geworden war, und feierten das Ende der Bestie. Die Wölfe gaben Ruhe in jenem Winter, und der Wald war wieder, dem Jäger sei Dank, zu einem sicheren Ort geworden.
    Bald darauf heiratete Rose den Jäger und empfing in den Jahren, die da kamen, zwei Kinder von ihm. Dann, eines Tages, fand man Jakob tot im Wald. In Stücke zerrissen. Von einem Wolf, der aus den tiefen Wäldern gekommen war. Rose trauerte um ihn und tauschte das rote Käppchen gegen ein schwarzes ein. Doch wenn sie allein mit ihren Töchtern in ihrer Hütte war und die süßen Kleinen an dem blutigen frischen Fleisch nagten, das sie ihnen heimlich vorsetzte, dann sah sie, wie sehr die Kinder nach der Mutter kamen, und war stolz auf die beiden. Und wenn sie des Nachts durch die Wälder streunte und den Mond anheulte, dann wurde ihr immer wieder bewusst, wie vergänglich der Menschen Geschichten vom Heldenmut der Männer waren.
    Damit endet die Geschichte von Rose, dem heldenhaften Jäger und der Bestie. Wie ihr wisst, erzählt man sich diese Geschichte schon seit sehr langer Zeit. Jedes Kind kennt sie. Und nun, meine Töchtertöchter, kennt ihr sie auch. Denkt daran, wenn euch einmal ein Jäger begegnet. Erinnert euch der Geschichte, die ich erzählt habe.
     
    Eine alte Frau bin ich nun, und wieder einmal schneit es in den Wäldern. Da, schaut nur aus dem Fenster. Grau ist mein Haar geworden, und wenn der Mond durch das Geäst scheint und ich durch das Unterholz presche, dann schimmert auch mein Fell so grau wie einst das meiner Großmutter. An jenem Tag vor langer Zeit, als sie aus Liebe zu den Ihren den Winterwald auf ewig verließ, wie auch ich es eines Tages tun werde.

Sukkubus
    In Soho gibt es eine Straße, die gesäumt wird von Buchhandlungen und Antiquariaten. Gerade dort machte ich an einem stürmischen, verregneten Wintertag meine geheimnisvolle

Weitere Kostenlose Bücher