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Nimmermehr

Nimmermehr

Titel: Nimmermehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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in der Winterzeit.«
    »Hier oben ist immer Winterzeit«, gab Marten zu bedenken.
    »Das ist das Problem«, murmelte Gunther. »Ja, genau das ist das Problem.«
4.
    Die Nachtschicht begann am späten Nachmittag kurz vor Einbruch der Dunkelheit und endete am frühen Nachmittag des nächsten Tages, wenn die Sonne wieder aufging. Drei bis vier Stunden Pause lagen zwischen den Schichten. Wenn man mehrere Schichten hintereinander arbeitete, dann blieb einem nicht viel Schlaf. Marten wusste das. Unterschrieben hatte er trotzdem. Das Kaufhaus bezahlte gut. Und hoch im hohen Norden, wo immer Winterzeit war, hatte man nichts einzuwenden gegen eine Arbeit, die man in beheizten Räumen verrichten konnte. Die Sache mit dem, was mit der Dunkelheit kam, änderte nichts daran. Auch draußen gab es Gefahren, die in den verschneiten Ecken der Gassen lauerten.
    »Niemand weiß, was geschehen wird«, sagte Gunther.
    »Die Menschen«, gab Marten zu bedenken, »fürchten sich meist nicht vor den Dingen selbst, sondern nur vor ihrer Einschätzung der Dinge.«
    »Was soll das heißen?«
    »Dass Furcht nur dann entsteht, wenn man nicht weiß, womit man es zu tun hat.«
    Gunther nickte.
    Dachte nach.
    »Kennst du die Geschichte vom Kaufhaus Hrothgar?«
    »Nein.«
    »Dann will ich sie dir erzählen.«
5.
    Und Gunther erzählte: »Das Kaufhaus Hrothgar war eines der größten in der klirrenden Stadt jenseits der Schneewälder und Eisfelder. Unendlich breite Sortimente, so sagte man, habe man dort vorgefunden. Sortimente, so umfangreich, dass keinerlei Wünsche offen geblieben waren.«
    »Was hat das mit dem zu tun, was nach Einbruch der Nacht geschah?«
    »Nichts.«
    Marten nickte nur.
    »Zweihundertdreiundsechzig Angestellte haben dort gearbeitet, die Aushilfen und die Putzfrauen nicht mitgezählt.« Ernst schaute Gunther zu Boden. »Am Anfang verschwand ein Auszubildender aus der Gartengeräteabteilung im Kellergeschoss. Man fand seine Arbeitshandschuhe vor den Türen des Lastenaufzugs.« Er hob den Blick und flüsterte. »In der zweiten Nacht verschwanden fünf Mitarbeiter aus der Herrenoberbekleidung. In der dritten Nacht erwischte es die gesamte Buchhaltung.« In den dunklen Augen Gunthers schwamm die Furcht. »Nach zwei Wochen stand das Kaufhaus leer.«
    »Was sagte die Geschäftsleitung dazu?«, wollte Marten wissen.
    Gunther schüttelte den Kopf. »Es gab keine Geschäftsleitung mehr. Das Hrothgar öffnete eines Morgens einfach nicht mehr seine Pforten. Es blieb geschlossen.« Er schluckte, murmelte: »Nicht einmal Einbrecher, so sagt man, schlichen sich dort hinein.«
    »Hat man die Vorfälle denn nicht untersucht?«
    Jetzt ließ Gunther die Katze aus dem Sack. »Im letzten Winter kehrte nur ein einziger Handelsvertreter, der in die Stadt aufgebrochen war, von dort zurück. Den Verstand hatte der arme Kerl verloren, ja, so war es. Nur seltsames Zeug hat er gebrabbelt.«
    »Was war das für Zeug?«
6.
    »Er berichtete von Sirenen, höllischen Weibern mit Flügeln, die Lieder sangen. Lieder, so grausam, dass allein die Erinnerung daran einen redlichen Menschen in den Wahnsinn treiben konnte. Von Riesen, die bärtig und gewaltig durch die Straßen schritten.« Gunther sah sich erneut um, als befürchte er einen heimlichen Zuhörer. »Weißt du, was das letzte Wort war, das er ausgesprochen hat?«
    Marten schüttelte den Kopf.
    »Ragnarök«, flüsterte Gunther und nickte dabei überaus ernst. »Danach hat er nie wieder gesprochen.«
    »Was ist mit ihm passiert?«
    »Er hat sich umgebracht.«
    »Wie?«
    Gunther sagte es ihm.
    Marten verzog das Gesicht. »Das ist keine gute Geschichte.«
    »Das gleiche«, murmelte Gunther, »passiert jetzt bei uns.«
    »Abwarten«, antwortete Marten.
7.
    Ragnarök – der Tag des jüngsten Gerichts. Die Götter würden über die Erde wandeln und sich die Schädel spalten. Ungeheuer kröchen aus den Tiefen hervor, um die Menschen zu verschlingen. Kabelnetze würden zusammenbrechen und Automobile schluchzend verstummen. Die Toten würden ihre Körper durch die Straßen schleppen, und Verzweiflung wäre das Lied, das alle sängen. Das Internet wäre eine Sage, an die sich keiner mehr erinnert. Und Killerameisen träten in Scharen auf.
    »Dummes Zeug«, grummelte Marten. Er hatte viele dieser Geschichten gehört, aber er glaubte nur wenig von dem, was ihm zu Ohren gekommen war. Die Menschen waren redselig und abergläubisch. Gerade im Winter. Und Winter war es immer hier oben, im Norden.
    »Du wirst schon

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