Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark: Roman (German Edition)
Schnee tünchte alles in ein frisches, unschuldiges Weiß, das auch die großen Brandflecken auf dem Platz der Märtyrer verdeckte. Es besaß aber auch eine grausame Seite: Jahr für Jahr fielen dem Winter viele zum Opfer. Dass es in diesem Jahr nicht ganz so schlimm geworden war, reichte bei weitem nicht aus: Rhobair Duchairn fühlte sich keinen Deut besser. Gemeinsam mit Pater Zytan Kwill hatte er neue Notunterkünfte für die Ärmsten der Armen eingerichtet und zusätzlich ein gutes Dutzend ansonsten kaum genutzter Lagerhäuser der Kirche räumen lassen, um auch dort Schlafplätze anbieten zu können. Das Projekt war mit viel Geld gefördert, aber die Summe erschöpfte sich angesichts der Tatsache, dass der Winter dieses Jahr einfach kein Ende nehmen wollte. Brennstoffe wurden knapp. Das lag sicherlich nicht zuletzt daran, dass aus Gletscherherz keine Kohlelieferungen mehr eintrafen.
Schon oft hatte sich Vikar Rhobair gefragt, warum die Erzengel sich dafür entschieden hatten, die größte Stadt von Mutter Kirche ausgerechnet hier entstehen zu lassen. Im Sommer herrschte in Zion eine angenehm kühle Brise: Dann wimmelte es auf dem Pei-See vor Ausflugsbooten, und die Kinder liefen barfuß durch Straßen und Parks. Im Winter hingegen verwandelte sich die Stadt in eine bittere Eiswüste: Wärme schien dann beinahe ebenso wichtig wie Atemluft. Leicht zog man sich schwere Erfrierungen zu oder erfror gar. Also warum ausgerechnet hier? Hatten die Erzengel ihre von Gott verliehene Macht demonstrieren wollen? Hatten sie sich für diesen Ort entschieden, weil die Natur ihn vor Shan-weis aufrührerischen Dienern schützte? Immerhin hatte der Krieg auch nach der Zerstörung des Armageddon-Riffs beinahe unvermindert weitergetobt. Oder war es vielleicht viel einfacher? Hatten den Erzengeln Schnee, Eis und Kälte nichts ausgemacht? Hatten sie, anders als einfache Sterbliche, die unbestreitbare Schönheit des Winters genießen können, ohne dessen grausame Seite zu spüren? Vielleicht hatten sie nie darüber nachgedacht, was unweigerlich geschehen würde, wenn sie selbst sich aus der Welt zurückzögen, die sie auf Gottes Geheiß hin geschaffen hatten: Natürlich würden störrische Menschen darauf bestehen, eine ganze Stadt rings um den Tempel zu errichten, den die Erzengel zu Gottes Ruhm und Ehre hinterlassen hatten. Dass Shan-wei es geschafft hatte, derart viele Sterbliche auf ihre Seite zu ziehen, war untrüglicher Beweis dafür, dass die Erzengel, anders als Gott, nicht allwissend waren. Nicht einmal Langhorne selbst war es vergönnt, jederzeit zu wissen, was Menschen tun würden. Hätten sie es gewusst, hätten die Erzengel dann vielleicht ein Verbot ausgesprochen, an diesem Ort eine Herrschaftsmetropole zu errichten? Und das war Zion. Das abzustreiten wäre lächerlich, auch wenn es immer noch einige gab, die behaupteten, die weltliche Macht von Mutter Kirche sei beschränkt.
Na ja, allzu viele sind das nicht mehr! , dachte Duchairn grimmig. So wie die ganze Welt – dank uns! – den Verstand verloren hat, verfügt Mutter Kirche eindeutig über reichlich weltliche Macht. Sogar zu viel davon, will es mir scheinen.
Dieser Gedanke ging ihm in letzter Zeit immer häufiger durch den Kopf. Allerdings hütete er sich wohlweislich, das seinen Kollegen gegenüber zu erwähnen. Doch er hatte sich die Regularien angeschaut, die der sogenannte Ketzer Staynair für die Kirche von Charis erlassen hatte. Vikar Rhobair war beeindruckt, wie systematisch und drastisch Staynair die weltliche Macht seiner Kirche eingeschränkt hatte. Keinen Zoll breit wich er von der Verantwortung der Kirche ab, das Volk zu lehren, was richtig und was falsch sei. Er betonte auch, dass jedem Gemeindemitglied moralischer und spiritueller Beistand zu spenden sei. Doch zugleich hatte er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass Gerichtsbarkeit und Kriegsführung der charisianischen Krone zufielen, nicht etwa der Kirche des Kaiserreichs. Es war die Aufgabe des Kaiserpaars und des Parlaments, Gesetze zu erlassen und über deren Einhaltung zu wachen. Staynair hatte ohne Unterlass gemahnt, man dürfe nicht mit Hass dem entgegentreten, der einfach nur völlig aufrichtig anderes glaube als man selbst.
Aber genau darum geht es doch, nicht wahr, Rhobair? Duchairn verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete das Schneetreiben vor dem Fenster. Staynair erklärt den Angehörigen seiner Kirche, der Mensch habe nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht
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