Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark: Roman (German Edition)
, für sich selbst zu entscheiden. Jeder Einzelne müsse Gottes Stimme ebenso im eigenen Herzen tragen, wie er sie wieder und wieder in der Heiligen Schrift finden möge. Und zugleich müsse jeder auch bedenken, dass jedem anderen dieselbe Pflicht obliegt. Selbst wenn jemand anderes im Sessel des Großinquisitors säße: Wie sollte Mutter Kirche tatenlos zusehen, wie die grundlegendsten Lehren und die Worte der Erzengel selbst mit Missachtung gestraft werden? Schließlich behauptet diese neue Kirche, jeder könne ganz für sich Gottes Wille besser erkennen, als Seine göttlichen Boten und Diener ihn dies lehren könnten. Der einfache Mensch solle Gottes Wille besser kennen als Mutter Kirche, die doch Seine Statthalterin und Seine Erbin ist?! Wie soll Mutter Kirche auf ihre weltliche Macht verzichten, wenn die Seelen der ganzen Welt in ihre Obhut gegeben wurden und man ihr ausdrücklich aufgetragen hat, zu verhindern, dass auch nur eine einzige in die Irre geht?
Duchairn atmete schwer und wünschte, auf diese Frage eine Antwort zu kennen. Bisher war ihm nichts Brauchbares dazu in den Sinn gekommen. Auch wenn er ohne Lösung für dieses Problem blieb, gab es reichlich andere für ihn zu lösen. Deren Lösung wiederum könnte ihm die Antwort auf die eine große, alles entscheidende Frage leichter machen.
»Denken Sie über Ihre Notunterkünfte nach, Rhobair?«
Die Frage wurde nicht in Clyntahns spöttischem Tonfall gestellt. Duchairn drehte den Kopf in Zahmsyn Trynairs Richtung.
»Unter anderem«, erwiderte er gelassen und schaute wieder aus dem Fenster.
Mehrere Sekunden lang betrachtete Trynair nur schweigend das Profil des Schatzmeisters. Mit einem Seufzen trat er näher an seinen Kollegen heran und betrachtete dann ebenfalls die wunderschöne, todbringende Eislandschaft.
»Ich weiß, dass wir in letzter Zeit nicht immer einer Meinung waren«, sagte der Kanzler leise, »aber ich möchte Sie trotzdem wissen lassen, wie sehr ich bewundere, was Sie hier in Zion geleistet haben. Ich verbringe längst nicht so viel Zeit dort draußen in der Stadt wie Sie. Ehrlich gesagt würde ich das auch gar nicht wollen. Aber die Berichte erreichen mich natürlich trotzdem. Ich weiß, es ist vor allem Pater Zytan und Ihnen zu verdanken, dass im letzten Winter deutlich weniger Obdachlose erfroren sind. Ich bin mir sicher, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun, damit es in diesem Winter noch weniger werden.«
»Zu schade, dass Zhaspahr die Dinge nicht ebenso sieht«, erwiderte Duchairn.
»Zhaspahr neigt dazu, sich auf … einzelne Aspekte zu konzentrieren.« Trynairs Nasenflügel bebten. »Das, was er sehen will, sieht er mit beachtlicher Klarheit – und auch das, was er meint, sehen zu müssen. Bei derlei Dingen achtet er in einem beinahe erschreckenden Maße auf jede Kleinigkeit. Alles andere jedoch hält er für unwichtig. Oder zumindest für nicht wichtig genug, als dass er sich durch so etwas davon ablenken ließe, sich der wirklich wichtigen Dinge anzunehmen.«
»Das ist eine sehr interessante Beschreibung der Lage«, meinte Duchairn. »Zugegebenermaßen hätte ich sie anders geschildert, dennoch haben Sie recht. Allerdings wäre es für alle besser, dächte Zhaspahr zumindest darüber nach, welcher pragmatische Nutzen sich daraus ziehen ließe, auch an die Herzen der Menschen zu appellieren, statt sie nur unablässig in Angst und Schrecken zu halten – und ich meine wirklich alle Menschen , nicht nur die Armen und Kranken, die dort draußen erfrieren.«
Trynair stieß einen kurzen Grunzlaut aus, mit dem er dem Schatzmeister weder zustimmte noch widersprach. Vielleicht fürchtete er, selbst hier und jetzt könne einer von Clyntahns Spionen jeden seiner Schritte, jede seiner Gesten beobachten. Stets seine Kollegen aus dem Vikariat im Auge zu behalten, immer zu wissen, was sie gerade dachten, gehörte zu den ›Kleinigkeiten‹, auf die der Großvikar Wert legte.
Wie Samyl und Hauwerd Wylsynn am eigenen Leibe erfahren mussten , ging es dem Schatzmeister durch den Kopf. Wieder verspürte er mittlerweile vertraute Schuldgefühle.
»Ich war übrigens gerade auf dem Weg zu Ihrem Arbeitszimmer«, sagte Trynair nach kurzem Schweigen. »Mir liegen Briefe aus Dohlar und Desnairia vor – sogar aus Sodar, alle im Tenor gleich. Bevor ich diese Schreiben beantworten kann, bräuchte ich Ihre Unterstützung.«
»Meine Unterstützung?« Duchairn wandte sich vom Fenster ab und hob erstaunt die Brauen. Trynair jedoch blickte
Weitere Kostenlose Bücher