Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark: Roman (German Edition)
konnten Freiheit, Neugier und Einfallsreichtum erblühen – und aus diesem Würgegriff musste sich die Menschheit befreien. ›Vierer-Gruppe‹ hin oder her: letztendlich hätte Merlin Athrawes ohnehin einen Glaubenskrieg auf Safehold entfacht, mit all der Grausamkeit und Rohheit, die damit einherging. Dafür gab es einen guten Grund: Er hatte keine andere Wahl.
Merlin schnitt ein Gesicht, gab sich einen Ruck und verdrängte diesen nur allzu vertrauten Gedankengang ein weiteres Mal. Wenn Maikel Staynair tatsächlich recht hatte und auch ein PICA eine Seele besaß, würde Merlin Athrawes eines Tages Rechenschaft für all seine Taten abgelegen müssen – für das bereits Geschehene ebenso wie die Taten, die noch kommen mussten. Doch noch war dieser Zeitpunkt nicht gekommen. Aber wenn jenes letzte Urteil schließlich zu seinen Ungunsten ausfiele, dann war das eben so. Er konnte und wollte sich nicht selbst einreden, er hätte nicht genau gewusst, was er tat. Und jene Mission – Nimue Albans Mission – wäre jede Strafe wert, die eine Gottheit nur ersinnen mochte … vorausgesetzt, besagte Gottheit neigte auch nur ansatzweise zu rationalem Denken.
Doch jetzt galt es, sich vorzubereiten. Erneut warf Merlin einen Blick auf das Zeitdisplay, das derzeit einen Countdown anzeigte: voraussichtliche Ankunftszeit in den Bergen des Lichts.
.XXI.
Nimues Höhle,
Berge des Lichts,
die Tempel-Lande
Er erwachte.
Einen Moment lang lag er reglos da und versuchte herauszufinden, warum es ihn so sehr überraschte, zu erwachen. Doch ein vernünftiger Grund wollte ihm nicht einfallen. Als gäbe es eine Erinnerung, auf die er aber nicht zuzugreifen wusste – eine höchst ungewöhnliche Erfahrung! Er schürzte die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn, während er noch einen Augenblick länger an der Grenze zwischen Träumen und Wachsein verweilte. Trotzdem kam ihm nichts in den Sinn, was dieses sonderbare Gefühl erklären könnte. Schließlich zuckte er mit den Achseln und öffnete die Augen. Über sich sah er eine vertraute Zimmerdecke; in der Ferne hörte er durch das offene Fenster Wellen rauschen und Wyvern pfeifen, die unablässig den Palast umschwirrten. Ein herrliches Wohlgefühl vertrieb jegliche Verwirrung. Es war früh am Morgen: Die Sonne war zwar schon über den Horizont gekrochen, doch noch war es kühl. Eraystor lag in Äquatornähe; lange würde das nicht mehr so bleiben. Aber hier war er aufgewachsen. Er kannte den Pulsschlag seiner Heimat, wusste wie die Tage verliefen, und genau deswegen waren schon seit seiner Kindheit die frühen Morgenstunden seine Lieblingstageszeit gewesen. Da war die Welt noch still, als erwache auch sie selbst gerade erst, und die Morgenluft war wie klares, frisches Wasser oder die zärtliche Umarmung einer Geliebten. Diese sinnliche, sanfte Frische genoss er beinahe ebenso sehr wie die sternenübersäte Klarheit eines wolkenlosen Nachthimmels. Genüsslich streckte er sich, bevor er sich aufsetzte. Er atmete tief ein, füllte die Lunge beinahe schmerzhaft mit Luft und stieg aus dem Bett.
Ohne die Dienerschaft zu behelligen, streifte er sich einen Morgenmantel über und öffnete die Glastür des Balkons, der zu seinen privaten Gemächern gehörte. Dann trat er in die Morgenluft hinaus. Eine frische Brise zerzauste ihm das Haar. Lächelnd betrachtete er das Tablett, auf dem eine kleine Schale mit Melonenbällchen, Erdbeeren und Weintrauben bereits auf ihn wartete. Daneben stand eine Karaffe mit einer Apfel-Traubensaft-Mischung – seit vielen Jahren sein bevorzugtes Getränk am Morgen. Mehrere Sekunden lang stand er schweigend da, lehnte sich gegen das Geländer und blickte auf den Schlosspark hinab. Dahinter schimmerten im Sonnenlicht die Dächer und Türme von Eraystor. Er hörte, wie auch die Stadt allmählich erwachte – Stimmengewirr, das Klappern von Wagenrädern auf dem Straßenpflaster, gebellte Befehle eines Sergeanten und im Gleichschritt das Stiefeltrampeln einer Wachabteilung, die gerade die Nachtwache ablöste. Er lauschte, nahm alles in sich auf, fühlte beinahe körperlich, wie die ganze Welt erwachte. Dann wandte er sich dem Tisch zu und goss sich ein Glas Saft ein.
Den ersten Schluck trank er langsam, genoss das Aroma. Dann ließ er sich in den Rattansessel fallen, griff nach dem ersten Melonenbällchen, steckte es sich in den Mund und kaute langsam. Wieder runzelte er die Stirn. Irgendetwas stimmte nicht, aber was? Es war nicht beunruhigend oder gar verstörend,
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