Nimue Alban: Kampf um die Siddarmark: Roman (German Edition)
unmöglich war, einen potenziellen Zeugen zu übersehen. Aber ›nahezu unmöglich‹ war nun einmal nicht das Gleiche wie ›vollkommen unmöglich‹. Dass ein unerwünschter Zeuge sie in einem unpassenden Moment beobachtete, war jedoch bei Tageslicht nun einmal wahrscheinlicher als bei Nacht.
Andererseits hatte es gewisse Vorteile (aber auch einige Nachteile), wenn Owl ihn auf hoher See abholte. Zum einen fielen Boote und erst recht größere Schiffe mitten auf einer gewaltigen, ganz und gar leeren Wasserfläche auf. Also war es noch sehr viel unwahrscheinlicher, dass Owl einen potenziellen Zeugen übersah. Zum anderen brauchte ein PICA nun einmal nicht zu atmen. Daher war es Merlin herzlich egal, ob er nun in eine Tiefe von zwanzig oder dreißig Fuß abtauchte oder wie eine Boje auf der Meeresoberfläche auf und ab tanzte. Für ihn waren daher sämtliche Ozeane Safeholds ein einziges riesiges Versteck, in dem er gemütlich außer Sicht bleiben und abwarten konnte, bis das Schiff, das er zuvor unbemerkt verlassen hatte, in der Ferne verschwand und das Schwebeboot ihn abholte. Der größte Nachteil dieses Arrangements war natürlich, dass selbst die größten Galeonen immer noch recht klein waren – und voller potenzieller Zeugen: Besatzungsmitgliedern, Offizieren und gegebenenfalls auch noch Gästen. Das erschwerte es Merlin deutlich, unbemerkt zu verschwinden.
Da war es gut, dass es mittlerweile zu der Legende um den geheimnisvollen Seijin Merlin gehörte, dass er hin und wieder längere Phasen der Meditation und der inneren Einkehr einlegte. Ein jeder verstand, warum man ihm selbst an Bord der wirklich beengten Kaiserin von Charis eine eigene Kabine zugewiesen hatte. Wann immer der Seijin verkündete, er benötige jetzt Abgeschiedenheit und ziehe sich zurück, dachte niemand auch nur im Traum daran, ihn zu stören – es sei denn, an Bord wäre ein Feuer ausgebrochen oder die Kaiserin erlitte Schiffbruch. Damit war das Risiko, doch noch entdeckt zu werden, zwar nicht gänzlich beseitigt, aber wenigstens eindeutig vermindert. Außerdem hatte Merlin gar keine andere Wahl, als diesen Flug schon sehr früh am Tag beginnen zu lassen.
Ich hätte Cayleb und Sharleyan von diesem kleinen Projekt wirklich berichten sollen! , dachte er und konnte tief unter sich die Küste der Provinz Malitar ausmachen. Wahrscheinlich werden sie stinksauer sein, wenn sie herausfinden, dass ich das nicht getan habe. Niemand könnte ihnen das vorwerfen. Aber falls es nicht funktioniert, erfahren sie wenigstens nichts davon …
›Stinksauer‹ könnte noch sehr untertrieben sein , gab er vor sich selbst zu. Wahrscheinlich würde das Kaiserpaar verstehen, warum er ihnen im Vorfeld nichts davon berichtet hatte, hätten sie erst einmal genug Zeit, darüber nachzudenken. Letztendlich lief es doch auf eines hinaus: Wenn überhaupt jemandem diese Entscheidung zukam, dann ihm – nicht Cayleb oder Sharleyan. Und wenn es so funktionierte, wie Merlin das hoffte …
Er blickte auf die saftig grüne, trügerisch friedliche Küste von Malitar hinab und dachte an die grausamen Gefechte, den Hass und die Hungersnöte, die er so rasch und nur scheinbar achtlos überfliegen würde. Wieder beutelten ihn Schuldgefühle. Natürlich hatte nicht er die Aufstände in der Siddarmark vorbereitet. Er hatte auch kein Agenten ausgeschickt, die gezielt nach Nahrungsmittelvorräten Ausschau halten und sie sabotieren sollten. Merlin wusste genau, wer die Verantwortung für diese Barbarei trug. Dennoch konnte er sich selbst nicht davon freisprechen, letztendlich die Schuld daran zu tragen, dass die Kirche des Verheißenen zu diesem unbarmherzigen Heiligen Krieg aufgerufen hatte. Nun, die vier Männer an der Kirchenspitze waren sicher diejenigen, die dafür gesorgt hatten, dass es zu Aufständen und offenen Kämpfen gekommen war. Sie hatten ein Königreich zerschmettern wollen, das damals höchstens eine potenzielle Bedrohung für sie gewesen war. Ohne auch nur einen einzigen Augenblick zu zögern, hatten sie zu jenem ersten Angriff auf Charis aufgerufen. Es bestand keinerlei Zweifel daran, dass Zhaspahr Clyntahn und die Inquisition Blutschuld auf sich geladen hatten – die Verantwortung für all die Gräueltaten, die im Namen Gottes begangen worden waren. Doch ebenso stand völlig außer Frage, dass dieser Heilige Krieg erst durch Nimue Albans Auftrag unausweichlich geworden war. Nur so konnte sich die Menschheit aus dem Würgegriff der Kirche befreien; nur so
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