Nina, so gefällst Du mir
komm nur mit“, sagte Gunnar. „Wir haben Platz genug, und wir fahren sowieso nach Lillevik.“
„Darf ich dann neben dir sitzen?“ fragte Ellen.
„Das darfst du!“
„Ja, wenn es wirklich geht“, sagte Ellens Mutter, „dann vielen Dank… äh… Herr Espetun vermute ich?“
Gunnar lächelte. „Ich merke, Sie kennen den Wagen. Aber ich heiße nicht Espetun. Das Auto gehört meinem Onkel. Mein Name ist Gunnar Wigdahl. Und dies ist Fräulein Löge!“
„Frau Stensbö“, stellte sich die Frau vor. „Ja, dann wollen wir uns schnell anziehen, Ellen. Beeile dich, damit wir deinen neuen Freund nicht warten lassen.“
Ellen rutschte vom Stuhl herunter. Nina legte ihr die Katze auf den Arm, und das kleine Mädchen ging vorsichtig durch das Café und in die Küche hinaus. Die Mutter folgte ihr.
Gunnar blieb mit einem seltsam wehmütigen kleinen Lächeln um den Mund sitzen.
Da erinnerte er sich plötzlich an Ninas Existenz und er fragte: „Nun, Fräulein Löge, hat es so einen Eindruck auf Sie gemacht?“
Nina hatte rote Augen und eine blanke Nase. Sie lächelte ein wenig beschämt. „Ja, wissen Sie, ich habe noch nie ein blindes Kind gesehen – und die Kleine war so rührend – und sie tut mir so schrecklich leid – Herr Wigdahl, Sie müssen entschuldigen, daß ich so sentimental bin.“
„Da kann man doch nicht von Sentimentalität reden. Es ist ganz verständlich und menschlich“, sagte Gunnar. „Wenn Sie nur das Kind nicht merken lassen, daß Sie… daß Sie sentimental sind, wie Sie es nennen; denn das darf man nicht tun.“
„Nein, das verstehe ich. Und das war der Grund, weshalb Sie ihr antworteten: ,Es gibt so viele, die nicht sehen können’, als sie sagte, daß sie…“
„Ja, das stimmt ja auch. Es gibt leider viele Blinde. Und Sie verstehen, es ist für jedes blinde Kind eine Hilfe, wenn es erfährt, daß es anderen genauso geht.“
„Haben Sie denn mit vielen Blinden zu tun gehabt?“
„Allerdings.“ Mit einemmal war die Stimme wieder trocken und unpersönlich, so wie Nina sie nur zu gut kannte.
Aber nun wußte sie, daß die Stimme auch eine Herzenswärme verraten konnte. Nun wußte sie, daß hinter der ruhigen Maske sich etwas verbarg. Und darum wagte sie jetzt weiterzusprechen, und sie war nicht mehr unnatürlich aufgeregt und verkrampft, sondern fragte frei heraus:
„Dann haben Sie sie wohl in Trondheim gesehen; ich weiß ja, daß es dort die Blindenschule gibt.“
„Ja, das stimmt.“ Gunnar stand auf. Er holte Ninas Mantel vom Haken.
„Sind Sie schon einmal selbst in der Blindenschule gewesen?“ wollte Nina wissen.
„Ja.“ Gunnar hielt Nina den Mantel und reichte ihr ihren Schal. Es war, als zauderte er ein wenig, dann fügte er hinzu – und seine Stimme war ungewöhnlich ruhig, ungewöhnlich nahe: „Ich habe eine kleine Schwester in der Blindenschule.“ Dann wandte er sich ab. „Da bist du ja, Ellen, und hast sogar den Teddy auf dem Arm und was noch alles. Soll der Teddy auch mit zu deiner Großmutter?“
„Ja, und im Auto soll er auf meinem Schoß sitzen, neben dir!“
„Das soll er. Komm, gib mir deine Hand und, ja – und nun legen wir ein Kissen hin, wo ihr sitzen sollt, du und dein Teddy.“
Nina saß mit Frau Stensbö hinten im Wagen, und es wurde ihr schwer, sich soweit zusammenzunehmen, daß sie auf Frau Stensbös freundliche kleine Bemerkungen antworten konnte.
Ihre Augen hingen an dem schmalen Nacken vor ihr. Sie hörte die ganze Zeit die gute Stimme, die auf Ellens Geplapper antwortete – so ruhig und liebevoll und ganz natürlich und unsentimental.
In Ninas Brust arbeitete es. Verschiedene Gefühle rangen miteinander. Es war ein seltsamer Wirrwarr, in dem sie sich nicht zurechtfand. Mitleid mit der kleinen Ellen, Freude an Gunnars guter warmer Stimme – und dann trotz allem im Hintergrund der Gedanke: Wir wollten doch diese Fahrt allein machen! Es ist ganz gegen das Programm, daß ich hinten im Wagen sitze und zusehen muß, wie Gunnar einem fremden Kind Fürsorge und Wärme schenkt.
Nina schluckte und schluckte. Nur weil Frau Stensbö neben ihr saß, konnte sie ihre Tränen zurückhalten.
Vor einem kleinen, weißgestrichenen Haus in der Marktstraße setzte Gunnar Ellen und die Mutter ab. Nina ging wieder nach vorn zu ihm.
Auf dem Rückweg hatte sie nur einen einzigen Gedanken: den glühenden Wunsch, daß er ihr etwas Freundliches sagte, etwas von einem Wiedersehen, damit sie sich auf etwas freuen könnte, und einen winzig, winzig
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