Nina, so gefällst Du mir
gesprochen. „Es ist so wunderbar dort oben“, hatte sie gestern gesagt. „Und so voller Frieden! Und die vielen Elchspuren, die ich gesehen habe! Aber leider kein einziges Tier!“
„Nein, da muß man bei Sonnenaufgang hingehen“, hatte Grete erklärt. „Quer über das Moor führt ein Elchwechsel, und da pflegen sie frühmorgens hinzukommen. Um diese Jahreszeit kann man auch Kälber sehen.“
Gunnar hatte Nina beiseitegezogen und sie gefragt, ob sie Lust habe. Sie könnten sich das Auto schnappen, meinte er, und die sieben, acht Kilometer bis nach oben fahren. Dann brauchte man nicht mehr als eine halbe Stunde bis zum Elchmoor zu laufen, und wenn sie um vier Uhr losführen, könnten sie ohne weiteres zurück sein, bis das Morgenfrühstück gerichtet werden mußte.
Sie schoben das Auto geräuschlos aus der Garage hinaus. Natürlich mußten sie leise sein, um niemand zu wecken.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Aber ein kleiner roter Schein im Osten verriet, daß es nicht mehr lange dauern würde.
Die Straßen waren menschenleer; überall war es still. Einmal mußte Gunnar plötzlich anhalten, weil ein Eichhörnchen quer über die Straße lief. Er wandte den Kopf und lächelte Nina zu. Einen Augenblick ließ er das Steuer mit der Rechten los und drückte ganz schnell Ninas Linke. Dann fuhren sie weiter durch die stille Morgendämmerung.
„Bist du warm genug angezogen?“ fragte Gunnar schließlich.
„Oh, und wie! Du siehst, ich habe die langen Hosen an und eine Strickjacke unter dem Anorak.“
„Was hast du in der Schultertasche?“
„Das wirst du sehen, wenn wir ein bißchen weiter sind und du anfängst, Frühstücksgefühle zu bekommen.“
„Du bist ein Prachtmädel, Nina, daß du auch daran gedacht hast.“
Jetzt tauchte das „Blaufall“-Hotel ein Stück links über ihnen auf. Sie wechselten einen schnellen Blick und lächelten.
„Denk bloß, daß du dort auf der Terrasse gesessen hast, ohne daß ich es ahnte“, sagte Gunnar. „Weshalb bist du eigentlich weggelaufen?“
„Du wirst lachen, wenn ich es dir sage. Ich war so garstig.“
„Garstig?“
„Ja, eben garstig! Ich wollte nicht, daß du mich so sehen solltest, mager wie ein Gespenst und blaß und häßlich. Ich war so lange krank gewesen.“
„Du? Krank? Ach du Armes, Kleines! Ja, ich fand auch, du seiest sehr viel schlanker geworden. Aber ich dachte, das käme von der vielen Arbeit auf Sirili.“
„Ach wo, im Gegenteil! Nachdem ich angefangen hatte, dort zu arbeiten, habe ich zugenommen. Ich fühle mich dabei wohl. Weißt du, ich koche für mein Leben gern, und das ist ja auf Sirili meine Hauptarbeit.“
Gunnar schwieg einen Augenblick. Dann fragte er: „Du, Nina, weshalb willst du eigentlich aufs Gymnasium gehen?“
„Ich weiß nicht recht.“
„Du warst neulich so ehrlich, als ich dir eine sehr indiskrete Frage stellte. Würdest du heute auch ehrlich sein?“
„Ich will es versuchen.“
„Eigentlich hast du viel mehr Lust, nach Oslo zu gehen und weben zu lernen, so wie du es ursprünglich geplant hattest. Du bist auf die Sache mit dem Gymnasium meinetwegen gekommen. Stimmt das?“
Nina wurde rot und sah nieder. „Ja, Gunnar, das ist wohl richtig.“
„Aber meinetwegen brauchst du es nicht zu tun. Ich mag dich am liebsten, wie du bist. Bleib, wie du bist, Nina. Spring nicht aus deinem Geleise, um einem anderen Menschen zu imponieren. Außerdem würde es mir nicht die Spur imponieren, wenn du aufs Gymnasium gingst. Weshalb sollst du die Schulbank drücken und Chemie und Biologie und Mathematik lernen, wenn du vielleicht besser an einen Webstuhl paßt? Ich vermute, du hast auch Begabung dafür, weil du doch dazu entschlossen warst.“
„Ja“, sagte Nina, „das habe ich, glaube ich. Zeichnen und Handarbeit sind immer meine besten Fächer gewesen. Ja, und Haushalt.“
„Na siehst du! Man muß seinen Beruf nach der Begabung auswählen, die man mitbekommen hat, Nina.“ Nina schwieg lange.
Schließlich hob sie den Kopf. „Du hast recht, Gunnar. Wenn ich mit Farben arbeiten darf und mit Mustern und Nadel und Faden und Stricknadeln…“
„Und Weberschiffchen und Kochlöffeln und Bratpfannen“, ergänzte Gunnar.
„… und Backbrett und Rollholz“, lächelte Nina, „dann bin ich glücklich. Und du hast recht; ich glaube nicht so unbedingt, daß Chemie und Mathematik mich glücklich machen würden.“
„Das ist genau das, was ich meine.“
„Ich schreibe heute an meinen Vater, Gunnar. Ich frage
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