Ninis - Die Wiege der Baeume
für eine Überraschung!” Levinie schimpfte, während die Bäume in ihrer Nähe sie auslachten. „Und ihr seid ruhig!” Sie planschte unbeholfen ans Ufer.
Levinie kannte die Umgebung gut, alles sah aus, als ob sie sich in der realen Welt bewegte. Die Zeit war knapp: Sie machte sich sofort auf nach Menisis zu laufen. Das Traumritual durfte nicht zu lange dauern, je länger sie hier verweilen würde, desto schwieriger wäre, es den Weg zurück zu finden. Leichtfüßig lief sie durch den Wald, eigentlich wusste sie nicht genau auf was sie achten sollte. Hoffentlich würden sich die Dinge zum Guten fügen. Dementsprechend hatte sie sich auf viele Überraschungen vorbereitet – nur damit hatte sie nicht gerechnet: Als sie sah, was sich vor ihr abspielte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihre Töchter Penthe und Tarbara liefen gut gelaunt zwischen den Bäumen herum. Sofort wollte sie nach ihnen rufen, aber aus ihrem Mund erklang kein Ton. Ohne Umwege kamen ihre Töchter auf sie zu, ihr Herz raste. Sie winkte, aber ihren Töchtern war keine Reaktion anzumerken. Panik stieg in ihr auf, ihre Kinder schritten körperlos durch sie hindurch. Der Duft von Penthes Haaren lag in der Luft. Levinie drehte sich um und lief ihnen nach. Unendlich langsam versuchte sie ihnen zu folgen. Als ob sich ihre Beine steinschwer in Morast bohrten. Sie stolperte, stürzte gegen einen Baum und rieb sich die Beule auf der Stirn. Ihr Schatten drehte sich zu ihr und lachte schadenfroh. Ja, nur ein Traum, sie stand auf und rannte weiter.
Die Bäume sangen leise im Wind als sei nichts Besonderes passiert. Nur ihre Töchter waren verschwunden. Levinie atmete tief durch und versuchte, wieder die Kontrolle über sich zu gewinnen. Suchend blickte sie sich um, nur, wohin sollte sie jetzt gehen?
Ein weißer Vogel flatterte in ihr Blickfeld und setzte sich auf einen Ast. War das ein Zufall?
„Du gehörst hier genauso wenig hin wie ich … was möchtest du mir zeigen, kleiner Freund?”
Der Vogel flog weiter, sie lief ihm nach und gelangte an den Platz, an dem die jungen Lamenis ihre Prüfung der Treue ablegten. Yirmesa wäre nach der nächsten Sonnenwende selbst an der Reihe gewesen und hätte ihre Berufung bei den Lamenis erfahren. In diesem Augenblick entdeckte Levinie Penthe und Tarbara wieder, sie sah auch viele andere bekannte Gesichter – alle, die damals dabei waren. Levinie erlebte erneut die Treueprüfung ihrer Kinder aus einer Zeit, in der Yirmesa noch nicht geboren war. Ein Stich fuhr ihr in den Magen, als sie sich selbst in den hinteren Reihen neben Karlema und der jungen Niavia erblickte. Die Führung der Wächterinnen oblag damals noch ihr. Sie konnte auch das Leuchten in den Augen ihrer Töchter sehen – sie wusste, dass sich beide wünschten, neues Leben schenken zu dürfen. Es verging damals kaum ein Tag, an dem sie nicht an den Opelis-Pflanzen vorbeiliefen und die Nächte bis zum nächsten Mondfest zählten. Einen passenden Mann hatten die beiden auch schon im Visier.
Zur Treueprüfung gehörte ein vermodertes Baumstück, mit unzähligen Öffnungen, das in der Nähe von Menisis lag. Sie wusste, dass die jungen weiblichen Lamenis durch einen beherzten Griff einen Blick in ihre Zukunft wagen konnten. Im Stamm saßen unzählige kleine Waldkröten mit der Eigenschaft, Haut auf eine sonderbare Art zu färben. Ein Griff nach einer Waldkröte und die Hände färbten sich blau, rot oder gelb.
Blau stand für neues Leben, es war die Erlaubnis, sich mit einem Mann in einer Opelis zu vereinen, der Segen, Kinder haben zu dürfen. Rot – die Farbe des Blutes – stand für den Kampf, der Weg zu den Wächterinnen. Rot bedeutete die Pflicht zu trainieren und zu kämpfen. Gelb stand für die Lehre, den Weg des Handwerks und zum Wissen.
Das Schauspiel nahm seinen Lauf, wobei eine junge Lamenis auch meistens den richtigen Griff tat, um ihrer Passion nachzugehen. Levinie schmunzelte, wie weise die Waldkröten doch waren, wenn es darum ging, die Wünsche der Prüflinge zu erkennen. Es zeigten sich viele bunte Hände und glückliche Gesichter. Nach den alten Sagen richteten sich die Waldkröten allerdings nicht nach den Wünschen der Prüflinge, sondern erfuhren vom Schicksal über eine Berufung einer Lamenis.
Als Tarbara an der Reihe war, spürte Levinie noch heute ihre Freude. Sie streckte strahlend ihre blaue Hand nach oben, jubelte und lief zu ihr. Bei Penthe war es seltsam, ihre Hand wurde rot. Tränen liefen ihre Wangen hinab. Levinie
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