Ninotschka, die Herrin der Taiga
Sie, Borja Stepanowitsch«, sagte er mit ruhiger, väterlicher Stimme. »Vergeuden Sie nicht Ihre Kraft. Sie werden sie noch brauchen für die Taiga.«
Jeder Friedhof hat etwas Ernstes, Beunruhigendes an sich, auch wenn die Grabdenkmäler noch so schön sind und die Blumen noch so üppig blühen. Die stumme Gegenwart der Toten ist wie eine lautlose Mahnung, wie vergänglich alles ist, wie klein die Zeitspanne, die ein Mensch auf Erden bleiben darf, und wie wenig es eigentlich nützt, sich über tausend Dinge zu ärgern, die das Leben zwar vergällen, aber doch so nichtig sind vor dem unaufhaltsam mit jeder Stunde näherrückenden Ende.
Ein Friedhof bei Nacht aber hat immer etwas Unheimliches an sich. Ist es der alte Aberglaube, daß nachts die Seelen dort umgehen?
Graf Koschkin hatte sich von seinem neuen Leibkutscher bis an das schmiedeeiserne Tor des St.-Stephanus-Friedhofs fahren lassen und war dann allein weitergegangen. Die Wege zwischen den Gräbern waren breit – man hatte Platz in Rußland. Es war eine kühle Herbstnacht, durch einen in den Wolken schwimmenden Mond in ständig wechselndes fahles Licht getaucht. Die marmornen Engel und Christusfiguren, die eisernen Doppelkreuze und die schlichten Holztafeln wirkten gespenstisch – wie ein Heer erstarrter, verkrümmter Toter. Koschkin verstand auf einmal, warum Iwan der Schreckliche in den letzten Monaten seines Wahnsinns heimlich über den Moskauer Friedhof gewandert war und jedes Kreuz, jedes Grabdenkmal um Verzeihung gebeten hatte.
Wo Ninotschka ihn erwartete, wußte Koschkin nicht. Miron hatte nur gesagt: »Gehen Sie den Hauptgang immer geradeaus, Hochwohlgeboren, und dann bei der vierten Abzweigung nach links. Man wird Sie ansprechen.«
Koschkin zählte. Beim vierten Nebenweg bog er ab und kam auf ein Feld von uralten, schon verfallenen, von Unkraut überwucherten Gräbern.
Nichts rührte sich. Koschkin blieb stehen, schlug den Kragen seines Mantels hoch und blickte sich um. »Ninotschka«, rief er leise.
Seine Stimme verhallte. Er wartete, ging dann langsam weiter und umfaßte unter seinem Mantel den Griff einer langläufigen Pistole. Das alles kann eine Falle sein, dachte er. Aber warum sollte man mich umbringen? Ich habe keine Feinde. Ich war immer ein anständiger Mensch; ich habe meine Leibeigenen wie Menschen und nicht wie Arbeitstiere behandelt. Sie haben genug zu essen und leben in sauberen Zimmern. Ich habe niemanden verraten, auch die Dekabristen nicht, obwohl ich vieles vorher wußte und kein politischer Freund von ihnen war. Ich liebe meinen Zaren. Die Krone ist Rußlands Stärke – etwas anderes habe ich nicht gelernt.
Und der Zar selbst? War er zu einer solchen Hinterlist fähig? Sich auf dem Friedhof eines Mannes zu entledigen, dessen Tochter patriotische Aufrufe gegen den Zaren unterschrieb?
Koschkin blieb wieder stehen. Er meinte, ein Geräusch gehört zu haben, und zog die Pistole aus dem Gürtel. Der Mond brach jetzt hinter den Wolken hervor. Plötzlich war es hell. Und da tauchte Miron auf, als sei er einem der Gräber entstiegen, in seinem Kutschermantel mit der Pelerine, den Hut tief ins Gesicht gedrückt.
»Miron Fedorowitsch, wo ist sie?« fragte Koschkin mit bebender Stimme.
»Ich bin hinter dir, Väterchen!«
Koschkin fuhr herum. Ninotschka lehnte an einem großen, niedergebrochenen Holzkreuz. Ihr blauer Seidenmantel schimmerte im Mondlicht.
»Ninotschka …«, stammelte Koschkin, »Töchterchen, darf ich dich umarmen?«
Er machte einen Schritt auf sie zu und streckte die Arme aus. Mit einem leisen Aufschrei, der wie der Ruf eines kleinen, aus dem Nest fallenden Vogels klang, warf sich Ninotschka an Koschkins Brust.
Miron setzte sich abseits auf eine umgestürzte Säule, griff in die Tasche seines Mantels und holte eine Handvoll Sonnenblumenkerne heraus. Er steckte sie in den Mund und begann zu kauen.
Eine Stunde blieben Ninotschka und ihr Vater beisammen, saßen auf einem alten Steinsarkophag, hielten sich an den Händen und nahmen Abschied für immer. Koschkin versuchte nicht mehr, Ninotschka davon zu überzeugen, daß es Wahnsinn sei, mit nach Sibirien zu ziehen. Ihn erschütterte diese Liebe zu Borja so sehr, daß er es nicht mehr über sich brachte, ihr Steine in den Weg zu legen.
»Versuche noch einmal mit dem Zaren zu sprechen, Väterchen«, sagte Ninotschka. »Flehe ihn an, falle vor ihm auf die Knie, bitte ihn, daß ich Borja heiraten darf, bevor man ihn auf die große Reise schickt. Väterchen, nur
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