Ninotschka, die Herrin der Taiga
Ehefrauen dürfen mit nach Sibirien. Ich muß Borja heiraten, wenn ich bei ihm bleiben will.«
»Und wenn der Zar es nicht gestattet?«
»Dann folge ich allein den Spuren der Verbannten. Ich lasse Borja nicht im Stich.«
Koschkin erhob sich. Sein Herz brannte vor Kummer. »Ich werde dem Zaren meinen Kopf bieten für seine Gnade«, erwiderte er mühsam. »Ich werde ihm mein Leben geben.« Er zog Ninotschka an sich und begann, nun doch zu weinen. »Sehe ich dich nie wieder, Töchterchen?«
»Das weiß nur Gott …«
»Wie oft hat Gott in Rußland geschwiegen …«
»Vielleicht wird er diesmal reden. O Väterchen …« Sie küßten sich, umarmten sich und wußten, daß ihnen nur noch wenige Minuten blieben, bis das Schicksal sie trennte.
Miron Fedorowitsch brachte Koschkin zurück zum Tor des Friedhofs. Dort umklammerte der Graf die breiten Schultern des Kutschers und schüttelte ihn mit verzweifelter Kraft. »Paß auf sie auf, Miron«, keuchte er. »Laß sie nie allein. Gott soll dich verfluchen, wenn du sie verläßt! Ich gebe euch zehntausend Rubel mit. Hol sie ab, wenn du weißt, daß die Verbannten aufbrechen. Miron, schwöre mir, daß du Ninotschka nie allein läßt!«
»Ich schwöre es«, sagte Miron feierlich.
»Du bist ein freier Mann, Miron Fedorowitsch.« Koschkin griff in die Tasche und holte das Schreiben heraus, das den Kutscher von seiner Leibeigenschaft befreite.
Miron nahm es mit zitternden Fingern, küßte zuerst den Brief, ergriff dann Koschkins Hand und küßte auch sie. »Gottes Segen über alle Koschkins«, sagte er. »Herr, ich schwöre Ihnen, daß ich nur noch für Ninotschka leben werde.«
VII
Am 11. November, einem nebligen Morgen, an dem man die Newa-Inseln nicht mehr sehen konnte und ein feiner Nieselregen von den Dächern tropfte, erschien General Lukow in Borjas Zelle. Ihm folgten zwei Ordonnanzen mit der Galauniform der Gardereiter über dem Arm und nahm an der Zellentür Haltung an.
»Leutnant Borja Stepanowitsch Tugai«, sagte Lukow laut. »Ich nenne Sie so, obwohl Sie degradiert sind. Und ich bringe Ihnen Ihre Uniform, obwohl sie Ihnen nicht mehr zusteht. Ziehen Sie sich an und halten Sie sich bereit. In einer halben Stunde werden Sie die Komtesse Ninotschka Pawlowna Koschkina heiraten.«
Die Kirche innerhalb der Peter-Pauls-Festung war leer, kalt und trotz der goldenen Pracht der Ikonastase von einer bedrückenden Trostlosigkeit, als Leutnant Tugai mit General Lukow das Heiligtum betrat. Vor dem Altar warteten der lange, dünne Philosoph Lobkonow und der schmächtige, blutjunge Leutnant Alexej Plisky. Auch Tugais ehemaliger Bursche, der Gardereiter Russlan Kolki, war da. Er stand abseits an einer gedrechselten, goldbemalten Säule und wischte sich gerührt die Augen.
Während Tugai seine Uniform trug, hatten die anderen die Sträflingskleider an. Vor der Ikonastase war Vater Eftemian mit dem Anzünden der Kerzen beschäftigt. Er drehte sich um, als er von der Tür her die knarrenden Stiefeltritte hörte.
»Alexej Borisowitsch !« rief Tugai und streckte beide Arme aus. »Du lebst! Man hat dich nicht erschossen!« Er lief Plisky entgegen, sie umarmten und küßten sich. »Warum hat man dich am Leben gelassen, mein Freund?«
»Sie haben mich außer der Reihe verurteilt, Borja Stepanowitsch. Nicht einmal Sibirien hat man mir gegeben. Ich soll am Eismeer eine Straße bauen.«
»Warum rennst du dir nicht vorher den Schädel an der Wand ein?« Tugai drückte den Freund wieder an sich. »Alexej, dort oben stirbst du jeden Tag, immer ein bißchen mehr, bis du einfach liegenbleibst.«
»Ich habe den Mut, ans Überleben zu glauben, Borja.« Plisky lächelte verzerrt. »Auch du wirst durchkommen. Wir sind noch jung.«
»In Sibirien wird man in einem Jahr zum alten Mann.« Tugai wandte sich seinem Burschen zu. Russlan Kolki wollte auf die Knie fallen, aber Tugai hinderte ihn daran und umarmte auch ihn.
»Euer Hochwohlgeboren«, stotterte Russlan. »Ich bin so glücklich … so glücklich. Ich habe gedacht, man hätte Sie …« Er begann zu schluchzen und lehnte den Kopf an Tugais Schulter.
»Mußt du auch zum Eismeer, mein Freund?« fragte Borja leise.
»Nein. Ich bleibe in Petersburg. Ich werde in einer Arbeitskompanie Kasernen bauen. Und jeden Tag zehn Stockschläge zum Abendessen – drei Monate lang.«
»Diese Schweine!« knirschte Tugai. Er fuhr herum und starrte General Lukow an, der hinter ihm stand. »Schweine!« brüllte er.
General Lukow schüttelte den Kopf.
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