Ninotschka, die Herrin der Taiga
Schlitten davonfahren sah, knöpfte seinen Rock auf, als werde es ihm zu heiß, er setzte sich an seinen Schreibtisch und trug in sein Tagebuch ein:
9. Dezember, ein Tag der Liebe, unbegreiflich und unfaßbar. Mein Gott, wieviel Kraft kann in einer Frau verborgen sein …
Die Frauen fuhren bis zur nächsten Poststation, einem alten Holzhaus mit großen Stallungen, einer überdeckten Veranda, einem großen Aufenthaltsraum und vielen Laternen, die im Wind schaukelten. Auch hier war der Boden von Pferdehufen und Schlittenkufen aufgewühlt. Man mußte die Pferde in aller Eile gewechselt haben, um möglichst viele Werst zwischen sich und Petersburg zu legen.
Später mochte es langsamer gehen. In dem weiten Land, das vor einem lag, in den Monaten, die man brauchte, bis man am Ziel war, fragte niemand mehr: »Wer sind diese Deportierten? Was, ein Fürst Trubetzkoi ist auch darunter? Und ein Wolkonsky? Und ein Murawjeff?«
Wer von den Burjäten, Tungusen, Ewenken und Kirgisen kannte schon einen Trubetzkoi? Für sie war er ein Verbannter wie jeder andere. ›Tote Seelen‹ – weiter nichts.
Der Postmeister, ein dicker alter Mann mit einem Schnauzbart und blutunterlaufenen Augen schlurfte heran. Er schlug die Hände über dem kahlen Kopf zusammen, als er die vielen neuangekommenen Schlitten sah und rief: »Keine Pferde mehr da! Hochwohlgeboren, man hat mir alle frischen Pferde weggenommen. Die anderen müssen bis morgen Ruhe haben. Morgen um sieben Uhr kann ich neue Pferde ausgeben!«
Dann sah er, daß es alles Frauen waren, die aus den Schlitten kletterten. Er riß den Mund auf vor Staunen, begriff nicht, was das sollte, und lief Miron in die Arme, der gerade von Ninotschkas Schlitten sprang.
»Unsere Pferde sind so frisch wie der Frühlingswind!« sagte Miron drohend. »Und du … versuche nicht zu lügen, Alter! Es ist schon vorgekommen, daß Größere und Kräftigere als du von mir Prügel bekommen haben. Wo sind die Gefangenen?«
»Schon weiter. Ich sagte es doch! Sie haben die Pferde gewechselt, so rasch, daß es fast an Zauberei grenzte. Zweiundfünfzig Kosaken – das sind zweiundfünfzig Teufel! Laßt mich in Frieden, Herr, ein armer Postmeister ist doch nur ein geprügelter Hund.«
In der Gaststube lagen auf der breiten Ofenbank sieben Reisende und schliefen. Es roch nach Schweiß, Kohlsuppe und nassen Kleidern. Ninotschka und die Fürstin Trubetzkoi blätterten in dem Gästebuch, das jeder Postmeister führen mußte und in dem er seine Gäste und deren Reiseroute eintrug.
»Aha«, sagte die Trubetzkoi und deutete auf die letzte Eintragung. »Nikolai Borisowitsch Globonow befehligt den Transport. Ich kenne ihn. Ein korrekter Offizier.« Sie nahm das Buch vom Stehpult, drehte sich um, und plötzlich breitete sich lähmende Stille in dem großen Raum aus. Die Frauen hielten den Atem an.
»Globonow hat für alle geschrieben. Einzelne Namen sind nicht vorhanden. Aber wir kennen jetzt die Strecke. Jaroslawl - Wjatka - Perm - Tjumen - Omsk - Krasnojarsk - Irkutsk - Tschita …«
Sie legte das Gästebuch auf einen Tisch und zog den Pelz enger um sich, als fröre sie trotz der Hitze, die der große Ofen ausströmte.
»Ans Ende der Welt …«, sagte eine leise, zitternde Stimme in die Stille hinein.
Die Fürstin Trubetzkoi nickte. »Hinter Tschita beginnt das Nichts. Wir werden ein Jahr unterwegs sein, vielleicht noch länger. Manche von uns werden es nicht überleben. Wer jetzt noch umkehren will, der soll es tun. Ich fahre weiter … Postmeister, für alle hier einen Tee und einen Eimer Hafer für die Pferde.«
Zwei Stunden später flogen die Schlitten wieder über den Schnee. Keine der Frauen war zurückgeblieben, sie alle zogen weiter in die Unendlichkeit, die vor ihnen lag.
Gegen Mittag erreichten sie die nächste Poststation in wirbelndem Schneesturm. Und auch hier fand man im Gästebuch nur die nüchterne Eintragung: Oberst Globonow als Kurier des Zaren. Ziel der Reise: Tschita.
Bis zum Abend ruhten sich die Frauen aus. Die Pferde wurden in die Ställe gebracht, mit Strohbüscheln abgerieben; sie bekamen ihr Heu, einen Eimer Mischhafer und zu trinken. Danach fielen sie um vor Erschöpfung und schliefen.
»Wir brauchen keinen Pferdewechsel«, sagte Miron Fedorowitsch, als der Postmeister jammerte, er könne unmöglich bis zum Abend vierunddreißig Schlitten mit neuen Pferden versorgen. »Sollen wir uns lahme Ziegen ins Geschirr nehmen? Sieh dir unsere hier an, Brüderchen, es sind die besten Pferdchen
Weitere Kostenlose Bücher