Ninotschka, die Herrin der Taiga
Eingang. »Schickt er unsere Männer zurück, folgen wir ihnen auch. Es gibt für uns immer nur eine Richtung: die, in die unsere Männer gehen.«
Sie riß die Tür auf, prallte einen Moment vor der Hitze zurück, die ihr entgegenschlug, aber dann ging sie weiter, stolz und schön, nahm das dicke Kopftuch ab und schüttelte die langen schwarzen Locken.
»Ninotschka Koschkina«, sagte Globonow gedehnt. »Ich habe sie als Kind auf meinem Schoß reiten lassen – und was ist aus ihr geworden.«
Er winkte einem Offizier, der aus dem Schankraum kam und gab ihm den Befehl, zwischen den streitenden Kosaken und Kutschern für Ruhe zu sorgen. Dann wandte er sich wieder der Trubetzkoi zu.
»Ich weiß, daß Sie eine Sondergenehmigung des Zaren haben, Ihren Mann zu begleiten, Fürstin …«
»Ich spucke darauf!« unterbrach sie hin. »Das habe ich seiner Majestät auch mitteilen lassen, als er die Bittgesuche der anderen Frauen ablehnte. Ich will keine Gnade für mich allein. Wir alle wollen bei unseren Männern sein; da darf niemand zurückbleiben.«
Globonow erwiderte nichts darauf. Statt dessen bot er der Trubetzkoi den Arm. »Darf ich Sie meinen Gast nennen? Werden Sie mir die Freude machen, mit mir zu essen?«
»Wir alle – alle Frauen ohne Ausnahme. Wir sind Schwestern im Leid.«
»Wenn es sein muß!« Globonow seufzte zum drittenmal tief auf. »Fürstin, als ich mein Bein verlor, war mir nicht so elend zumute wie heute.«
»Wegen ein paar Frauen?«
»Wegen morgen.« Globonow geleitete die Trubetzkoi in den großen überheizten Schankraum. Er war bis auf zwei Offiziere leer. Alle anderen Reisenden hatte man schon bei der Ankunft der Verbannten in einen Stall umquartiert, so laut das Protestgeschrei der Betroffenen auch gewesen war. An einem Stehpult, auf dem das Gästebuch lag, stand Aljoscha, der Posthalter, ein dürres Männchen, das sich tief verbeugte.
»Was geschieht morgen?« fragte die Trubetzkoi, an Globonows letzte Bemerkung anknüpfend. »Eine neue Schikane?«
»Das übliche«, erwiderte Globonow plötzlich einsilbig. Was wirklich passieren sollte, lag selbst ihm schwer im Magen. Er dachte an die Sträflinge, die einmal Offiziere und Angehörige des Hochadels gewesen waren. Beim Morgengrauen würde man ihnen den letzten Funken von Menschenwürde nehmen, so als seien sie Tiere, denen man nur noch das Atmen, Essen und Schlafen erlaubte.
Eine Stunde später saßen alle Frauen der Deportierten an einem langen Tisch, aßen von einem vorzüglichen, knusprigen Braten, tranken den mit Wasser verdünnten schweren grusinischen Wein und sehnten sich nach ein paar Stunden Schlaf. Die Trubetzkoi stritt sich wieder mit Globonow über die Weiterfahrt.
»Nennen Sie mir ein Gesetz, das es einem freien Menschen verbietet, durch Rußland zu reisen, wohin er will, selbst wenn es Sibirien ist.«
»Und Ihre Pferde?« fragte Globonow zurück. »Woher wollen Sie den Hafer für sie nehmen? Die edlen Tierchen fressen weder Baumrinden noch Holz. Mehr werden sie aber hinter dem Ural nicht finden. Und an dem harten Gras im Sommer werden sie sich die Nüstern aufschneiden.«
»Es wird immer andere Pferde geben, Nikolai Borisowitsch.«
Globonow überblickte den langen Tisch, sah sich die Frauen an und senkte den Kopf. »Die Hälfte von Ihnen wird elend zugrunde gehen, Fürstin«, sagte er leise.
»Wir alle haben unseren Frieden mit Gott gemacht … Sonst hätten wir nicht in die Hölle ziehen können. – Nikolai Borisowitsch, wie geht es meinem Mann?«
Globonow hob die Schultern. »Er fällt nicht auf, und das ist schon viel wert. Wenn ich dagegen an diesen Schriftsteller Lobkonow denke … ein sehr schwieriger Mensch! Läuft in seinen viel zu kleinen Kleidern herum, weigert sich, größere anzuziehen und singt Kinderlieder, wenn man ihn anspricht. Mich nennt er ›Väterchen mit der geschnitzten Wade‹. Ein Irrer! Er sieht in Sibirien kein riesiges Totenhaus, sondern Rußlands Zukunft. Eine Zukunft auf den Rücken von Deportierten … Er ist total verrückt!«
Im Laufe des Abends verlor Globonow die Übersicht über die vielen Frauen. Die einen suchten sich ein Lager zum Schlafen, ein paar schrieben Briefe oder begannen, irgend etwas an ihrer Kleidung zu flicken, und dann traf auch noch von Perm eine Postkutsche mit neuen Reisenden ein. Von ihnen erfuhr man, daß die Straße nach Perm und weiter zum Ural eine einzige Schnee- und Eiswüste war.
»Welch ein Winter, Väterchen!« sagte einer der Reisenden zu Aljoscha, dem
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