Ninotschka, die Herrin der Taiga
atmete auf. »Jetzt legen wir wieder unser gewöhnliches Reisetempo vor. Dawai, laßt die Pferdchen laufen! Sibirien kann nicht von Schlafmützen erobert werden!«
Die Peitschen knallten über die Köpfe der kleinen Gäule, die Kufen knirschten im Schnee, Hinein nach Sibirien …
Als die Frauen die Paßhöhe erreichten, hielten auch sie die Schlitten an und blickten, wie zuvor ihre Männer, hinunter in die endlosen Wälder.
»Laßt uns beten«, sagte die Fürstin Wolkonsky, die eine sehr gläubige Frau war. »Bis hierher war Gott mit uns. Er muß es auch sein bis ans Ende unseres Weges …«
Sie zündeten Kerzen an, steckten sie in den verharschten Schnee und knieten nieder. Und die Kutscher in ihren Schlitten rissen die Fellmützen ab und bekreuzigten sich.
In einem großen Kreis, den Kopf gesenkt, beteten still die Frauen.
»Gib uns Kraft, Gott. Vor uns liegt Sibirien. Wir wollen es beherrschen mit unserer Liebe …«
IX
Der Abstieg vom Ural in die Niederungen des Flusses Tobol war eine einzige Qual.
Schlitten stürzten um, noch weitere Pferde starben vor Erschöpfung im Geschirr, eine Frau brach sich den Arm, und Miron Fedorowitsch stritt sich mit ein paar anderen Kutschern herum, weil sie sich weigerten, diese Höllenfahrt weiter mitzumachen. Sie hatten Angst vor der Taiga und der nun fast zur Gewißheit gewordenen Ahnung: aus diesem Land kommen wir nicht wieder zurück!
Die beiden Kolonnen fuhren jetzt dicht hintereinander. Die Frauen bildeten gewissermaßen die Nachhut der Männer, und als sie den Tobol erreichten und die Stadt Tjumen vor sich sahen, gehörten sie praktisch schon zu den Deportierten. Es war eine lange Kette von Schlitten, umritten von den Kosaken, die sie nach allen Seiten absicherten.
Man kam jetzt in ein Gebiet, das berüchtigt war für seine Räuberbanden. Fast jede Woche wurden Handelszüge überfallen. Und Oberst Globonow transportierte neben den Dekabristen auch drei Kisten mit Goldrubeln nach Sibirien, die dazu bestimmt waren, im Süden des Landes eine neue Kolonie aufzubauen – einen neuen Stützpunkt des Zaren, besiedelt von Verbannten.
»Es ist besser, wir bleiben zusammen, meine Damen«, hatte Globonow zu den Frauen gesagt, als sie das letzte Lager vor Tjumen aufschlugen. »Ich überschreite damit meine Befugnisse, ich müßte Sie wegjagen aus der Nähe der Sträflinge, aber was soll das! Hier ist der Zar weit. Nur bitte ich mir eines aus: keinen Kontakt zu den Männern! Keine Annäherungen, keine Gespräche. Nutzen Sie meine Gutmütigkeit nicht aus, meine Damen.«
Es zeigte sich, daß Globonow großzügiger war, als er sagte. Nachdem man in Tjumen für alle Schlitten frische Pferde bekommen und die Vorräte aufgefüllt hatte, ergab es sich eigentlich ganz von selbst, daß der mitgeführte Militärkoch zu einer Art Küchenjunge degradiert wurde und die Frauen das Kochen übernahmen. An großen Lagerfeuern brutzelten Braten und dampften Suppenkessel, und selbst die Kosaken beteuerten: »So gut haben wir lange nicht gegessen! Welch ein Geschmack! Welch ein Fest!«
Und so standen bei jeder Rast die Soldaten und Deportierten in einer langen Reihe, ihr Blechgefäß in den Händen, und marschierten an den köstlich duftenden Kesseln vorbei, an der Spitze Oberst Globonow, der mit einem schiefen Lächeln sagte:
»Das kann selbst mich über Sibirien hinwegtrösten. Ninotschka Pawlowna, geben Sie mir eine ordentliche Portion von Ihrer wundervollen Kascha. Bei allen Heiligen, Sie machen mich noch auf meine alten Tage zum Vielfraß!«
Bei diesen Gelegenheiten war es natürlich einfach, mit den Männern zu sprechen. Aber was sollte man sagen? Man sah sich an und fragte doch ewig dasselbe: »Wie geht es dir? Machen dir die Ketten Beschwerden? Kopf hoch, Liebster! Wenn wir alle zusammenbleiben, kann auch die Taiga nicht so schlimm werden. Und im übrigen haben wir noch eine lange Wanderung vor uns. Wer weiß, ob bis zu unserer Ankunft die Welt nicht anders aussieht und uns ein Kurier des Zaren zurückholt nach Petersburg.«
Es war wirklich immer das gleiche, und doch gaben ihnen diese Worte Kraft. Denn hinter ihnen stand die Liebe, diese ungeheure, unbeugsame Liebe, die Not und Elend überwand und selbst den Tod nicht fürchtete.
Sie kamen nach Omsk, durchquerten die Wasnujanskij-Sümpfe, fuhren durch unendliche Wälder, setzten über das Eis des riesigen Ob und kamen in ein Gebiet, in dem die Kirgisen, schlitzäugige Menschen mit gelblicher Hautfarbe, lebten. Sie wohnten in
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