Ninragon – Band 1: Die standhafte Feste (German Edition)
Himmelsriff. Sie durchbohrten mit ihrer steilen Schroffheit die sonst nur mit Tiefe gefüllte Leere unter ihm, zwischen der Hauptmasse der Festung und der Klippe des Grabenbruchs. Wenn er seinen Blick höher gleiten ließ, auf eine Ebene zu seinem jetzigen Standort, sah er gegenüber, jenseits der schwindelerregenden Weite der Kluft, die sich jäh vor ihm auftat, die höchsten Turmpfeiler von Himmelsriff in majestätischer Strenge und Schönheit in den Himmel vor sich aufragen. Sie teilten mit ihrem glatten, senkrechten Anstieg ihrer Mauern den weiten Ausblick auf Himmel und Ebene dahinter in gerade, unregelmäßig durchschnittene Streifen von Helligkeit.
Wenn er jetzt einen Schritt vorwärts machen würde, so könnte er jenes Hinabtauchen zwischen die Türme und Zinnen von Himmelsriff, das sich ihm in der Vorstellung seiner Kindheit eröffnet hatte, wiederholen.
Es wäre diesmal nur ein sehr kurzer Flug.
Lange Zeit war er, nachdem sein Vater ihre Gemeinschaft verlassen hatte, durch ein Niemandsland gewandert, in dem er nicht wusste, was er selber war, was nur Geisterbilder von ihm waren, wo Überzeugung endete und Selbstbetrug begann. Nie, während dieser Zeit, hatte er das in dieser Weise klar sehen und vor sich selber hinstellen können. Es hatte sich ihm immer nur als eine unbestimmte Unruhe und Verwirrung gezeigt; er hatte es als einen misslichen ungebetenen Gast begriffen, der ihm keinen Frieden gönnen wollte.
Doch trotz aller Zweifel hatte etwas in ihm nicht zulassen wollen, dass sich ihm solche Sichten und Gedanken offen zeigten. Das war nun vorbei. Er begriff es jetzt, da er hier stand, mit voller Klarheit. Etwas hatte sich verändert an dem Tag, an dem sie Auric Torarea Morante, den Menschenmann nach Himmelsriff gebracht hatten, und die lange Zeit des Wanderns durch ein Niemandsland hatte damit ihr Ende gefunden.
Schweigend war er an diesem Tag mit den anderen Gefährten seiner Plateauexpedition durch die Folge derselben hohen bleichen Kammern gegangen, welche die Zeugen seiner Verwirrung gewesen waren, und sie hatten dabei den Körper des Menschenmannes auf einer Trage mit sich geführt. Schon in diesem Moment hatte Darachel tief in seinem Inneren gespürt, dass etwas unwiderruflich umschlug und eine neue Qualität bekam. Ein Bäumefäller, ein Geschöpf des Eisens hatte die Gewölbe einer ihrer Festen betreten, und das war ein beispielloses Ereignis in diesen Tagen vor ihrer Aszension und endgültigen Abkehr von der Welt. Die hohen Kammern im Tiefeninnern des Grats hatten einen neuen kalten, scharfen Hall gehabt, die grauen Wände schienen von einer überladenen Sprödigkeit geradezu zu klirren, die schweigenden Gestaltensäulen ihrer Prozession warfen in ihrer wandernden Konstellation bedeutungsschwangere Schatten wie Menhire bei Sonnenwende.
Krähen krächzten hoch über den Graten von gewachsenem und gestaltetem Fels. Wie an jenem Tag, als die Veränderung ihren Anfang nahm. Sie waren ihm nur dunkle, versprengte Punkte, die hohlen Klang in die bleiern verhangene, von einem vagen Glühen erfüllte Himmelsleere warfen.
Früher war er oft hier hinauf aufs Plateau gekommen, allein oder mit anderen ihrer Gemeinschaft. Häufig war Nadragír einer seiner Begleiter gewesen, der dabei Pflanzen und Mineralien einer eingehenden Erkundung unterzogen hatte. Immer wieder hatte Darachel dabei Momente und Gelegenheiten gesucht, von außen, aus der Entfernung und allein einen langen Blick auf Himmelsriff zu werfen. Es war ihm dabei ein Trost und ein Friede zugekommen, wie er ihn im Inneren ihrer Behausung, in den Gängen, Kammern und Hallen von Himmelsriff niemals empfand. Heute glaubte er zu ahnen, dass der Moment des Geschenks, das er Auric aus dem Geisterland heraus gemacht hatte, die Vision der Heilung mit dem Anblick der fernen Feste vor dem Grabenbruch, vielleicht der Schlüssel zu diesen spärlichen Augenblicken des Mit-sich-im-Frieden-Seins bei ihm darstellte.
Er rechnete zurück und stellte fest, dass es tatsächlich lange her war, seit er zuletzt hier hinausgekommen war. Viele neue Beschäftigungen und Aktivitäten hatten ihn in der letzten Zeit in Anspruch genommen, wo früher andere nur müßig seine Tage ausgefüllt hatten. Doch heute hatte er sich schließlich wieder die Zeit für einen Ausflug genommen. Er musste seinen Kopf klar bekommen, die Dinge, die seither geschehen waren, für sich in eine Ordnung bringen.
Zeit war vergangen, seit Auric der Menschenmann, der Vai-Gaijar, Auric der
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