Nirgendwo in Afrika
Breslau. Du glaubst gar nicht, wie die Menschen, die alles verloren hatten, nach Geschichten verlangten, die so töricht und sinnlos waren in einer Zeit, in der jeder um seine Existenz kämpfen mußte wie zu Hause bei uns noch nicht einmal die Knechte und Dienstmädchen. Noch heute verkaufen wir selbstgemachte Marmeladen, Kuchen, Senfgurken und eingelegte Heringe, obwohl ich es inzwischen sehr weit gebracht habe. Ich bin Verkäuferin in einer Buchhandlung und kann zwar immer noch nicht besonders gut Englisch, so doch wenigstens lesen und schreiben, was hier sehr geschätzt wird. Daß ich einmal Schriftstellerin werden wollte und schon die ersten bescheidenen Erfolge hatte, habe ich längst vergessen. Mir fällt mein Jugendtraum nur heute ein, weil ich Dir schreibe und Dir immer mit Deinen Aufsätzen helfen mußte.
Zu einigen Breslauern haben wir Verbindung. Wir treffen uns regelmäßig mit beiden Brüdern Grünfeld. Die Familie hatte einen Textilgroßhandel am Bahnhof und belieferte das halbe Schlesien. Wilhelm und Siegfried kamen mit ihren Frauen schon 1936 nach New York. Die Eltern wollten nicht auswandern und wurden deportiert. Silbermanns (er war Hautarzt, hat aber hier nie das verlangte Sprachexamen nachmachen können und ist Portier in einem kleinen Hotel) und Olschewskis (er war Apotheker und hat außer einem Kind seiner Schwester nichts gerettet) wohnen in unserer Gegend, die hier allgemein das Vierte Reich heißt. Mutter braucht die Vergangenheit, ich nicht.
Jettel, ich kann mir Dich in Afrika gar nicht vorstellen. Du hattest doch immer so Angst vor allem. Sogar Spinnen und Bienen. Und wenn ich mich recht erinnere, war Dir jede Beschäftigung verhaßt, zu der man nicht die feinsten Kleider tragen konnte. An Deinen gutaussehenden Mann kann ich mich genau erinnern. Ich muß gestehen, ich habe Dich immer um ihn beneidet. Wie ich Dich auch immer um Deine Schönheit beneidet habe. Und Deinen Erfolg bei Männern. Ich bin, wie Du es mir in einem Streit schon als Zwölfjährige prophezeit hast, wirklich eine alte Jungfer geworden, und selbst wenn einer blind genug gewesen wäre, mir einen Heiratsantrag zu machen, hätte ich abgelehnt.
Nach allem, was Muttchen für mich getan hat, hätte ich sie niemals allein lassen können. Etwas muß ich Dir doch noch erzählen. Erinnerst Du Dich an unseren alten Schulpedell Barnowsky? Er ging im Frühjahr gelegentlich unserem Gärtner und an den Waschtagen unserer Gretel zur Hand. Vater hat für seinen ältesten Sohn, der sehr begabt war, das Schulgeld bezahlt und gedacht, wir wüßten es nicht. Ich weiß nicht, wie der gute Barnowsky von unserer Auswanderung erfahren hat, aber am letzten Abend in unserer Wohnung stand er plötzlich vor der Tür und brachte uns Wellwürste als Reiseproviant. Er hatte Tränen in den Augen und hat immerzu den Kopf geschüttelt und für alle Zeiten dafür gesorgt, daß ich nun nicht mehr alle Deutschen hassen kann.
Jetzt muß ich aber wirklich Schluß machen. Ich weiß, daß Du nie gern geschrieben hast, und doch hoffe ich sehr, daß Du diesen Brief beantworten wirst. Es gibt so vieles, das ich wissen möchte. Und Mutter kann es gar nicht abwarten, zu erfahren, ob noch jemand aus Breslau in Kenya ist. Mich machen die alten Geschichten nur traurig. Als Vater starb, ist ein Teil von mir mitgestorben, aber klagen wäre ja Sünde. Keiner von uns, die wir überlebt haben, hat seine Seele retten können. Schreib bald an Deine alte Freundin Ilse.«
Die Schatten waren lang und schwarz, als Walter den Brief in seine Hemdtasche steckte. Er stand auf, zog Jettel hoch vom Boden, und einen Moment schien es, als wollten beide gleichzeitig etwas sagen, doch sie schüttelten nur gemeinsam ganz leicht den Kopf. Auf dem kurzen Weg zwischen der Bushaltestelle und dem Hove Court war nur Chebeti zu hören. Sie beruhigte mit den Fetzen einer sanften Melodie das Baby, das ansetzte, aus Hunger Verdruß zu machen, und lachte sehr fröhlich, als sie merkte, daß ihr Gesang auch gut genug war, um die Augen von der Memsahib und dem Bwana zu trocknen. »Morgen«, sagte sie zufrieden, »kommt wieder ein Brief. Morgen ist ein guter Tag.«
Als Max auf den Tag genau sechs Monate alt war, machte er mit einem unerwarteten Entschluß dem Gerücht ein Ende, Chebetis Sanftheit hätte ihn verweichlicht und auch so träge gemacht wie die Kinder ihres eigenen Stammes, die noch an der Brust der Mutter tranken, wenn sie bereits laufen konnten. Chebetis kleiner Askari setzte sich
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