Nirgendwo in Afrika
streichelte seinen Sohn und pfiff die Melodie von »Don't fence me in«, die Chebeti so liebte. Dann erst fragte er: »Wer hat geschrieben?«
»Das rätst du nie.«
»Jemand aus Leobschütz?«
»Nein.«
»Aus Sohrau?«
»Nein.«
»Mach schon, ich platze.«
»Ilse Schottländer. Aus New York. Ich meine aus Breslau.«
»Die reichen Schottländers? Die vom Tauentzienplatz?«
»Ja, Ilse war doch in meiner Klasse.«
»Mein Gott, an die habe ich seit Jahren nicht mehr gedacht.«
»Ich auch nicht«, sagte Jettel, »aber sie hat mich nicht vergessen.«
Sie bestand darauf, daß Walter den Brief noch an der Bushaltestelle las. Am Rande der Straße standen zwei kümmerliche Dornakazien. Chebeti zeigte auf sie, holte nach dem letzten Wort der Memsahib eine Decke aus dem Kinderwagen und breitete sie, immer noch die schöne Melodie vom Bwana summend, unter dem größeren der beiden Bäume aus. Lachend hob sie Max aus dem Wagen, ließ einen Moment den Schatten auf seinem Gesicht tanzen und legte ihn zwischen ihre Beine. In ihren dunklen Augen brannten grüne Funken.
»Ein Brief«, sagte sie, »ein Brief, der durch das große Wasser geschwommen ist. Owuor hat ihn gebracht.«
»Laut, Papa, lies laut«, sagte Regina mit der bettelnden Stimme eines kleinen Mädchens.
»Hat Mama dir denn den Brief nicht schon zigmal vorgelesen?«
»Ja, aber sie hat so viel dabei geweint, daß ich ihn immer noch nicht verstanden habe.«
»Meine liebe, liebe Jettel«, las Walter, »als Muttchen gestern mit dem >Aufbau< nach Hause kam, bin ich fast verrückt geworden. Ich bin jetzt noch ganz aufgeregt und kann kaum glauben, daß ich an Dich schreibe. Ich gratuliere Euch beiden aus vollem Herzen zu Euerm Sohn. Möge er nie erleben, was wir erlebt haben. Ich weiß noch genau, wie Du uns in Breslau mit Deiner Tochter besuchst hast. Sie war damals drei und ein sehr scheues Kind. Wahrscheinlich ist sie jetzt eine junge Dame und spricht nicht mehr Deutsch. Die Refugeekinder hier schämen sich alle ihrer sogenannten Muttersprache. Mit Recht.
Ich wußte zwar, daß Ihr nach Afrika ausgewandert seid, aber von da ab verlor sich Eure Spur. So weiß ich auch gar nicht, wo ich anfangen soll. Unsere Geschichte jedenfalls ist schnell erzählt. Am 9. November 1938 haben die Bestien unsere Wohnung zertrümmert und meinen guten Vater, der mit einer Lungenentzündung im Bett lag, auf die Straße geschleift und fortgeschleppt. Es war das letztemal, daß wir ihn sahen. Er starb vier Wochen später im Gefängnis. Ich kann immer noch nicht an diese Zeit denken, ohne die Ohnmacht und Verzweiflung zu spüren, die mich nie mehr verlassen werden. Damals wollte ich nicht mehr weiterleben, aber Mutter hat es nicht zugelassen.
Diese kleine, zarte Frau, der Vater ein Leben lang jeden Wunsch von den Augen abgelesen hat und die nie auch die kleinste Entscheidung zu treffen brauchte, hat alles, was uns geblieben war, zu Geld gemacht. In Amerika hat sie einen entfernten Vetter aufgetan, der so anständig war, für Affidavits zu sorgen. Ich weiß bis heute nicht, wer in Breslau seine schützende Hand über uns hielt und wie wir an Schiffspassagen gekommen sind. Wir haben uns nicht getraut, mit irgend jemandem darüber zu sprechen. Vor allem wagten wir auch nicht, uns von irgendwem zu verabschieden (einmal sah ich Deine Schwester Käte vor Wertheim, aber es kam zu keiner persönlichen Begegnung), denn wenn bekannt wurde, daß einer auswandern wollte, wurden die Schwierigkeiten noch größer. Wir sind mit dem letzten Schiff in Amerika angekommen und hatten buchstäblich nichts außer ein paar wertlosen Erinnerungen. Die eine, das Kochbuch unserer alten Perle Anna, die sich auch nach der Kristallnacht nicht von ihren heimlichen Besuchen abhalten ließ, erwies sich als ungeahnter Schatz.
In einem Zimmer mit zwei Kochplatten begannen Mutter und ich, die wir unser ganzes Leben von Köchinnen und Dienstmädchen umsorgt worden waren, mit einem Mittagstisch für Refugees. Als wir anfingen, wußten wir nicht, wie lange ein weiches Ei im Wasser zu liegen hatte, und doch kochten wir irgendwie all die Gerichte nach, die in besseren Tagen bei den Schottländers auf den fein gedeckten Tisch gekommen waren. Welch ein Segen, daß Vater für Hausmannskost schwärmte. Doch es waren nicht unsere Kochkünste, die uns über Wasser hielten, sondern Muttchens unverwüstlicher Optimismus und ihre Fantasie.
Zum Nachtisch servierte sie immer den Klatsch aus der guten jüdischen Gesellschaft von
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