Nirgendwo in Afrika
Lieblinge sich nur als gewöhnliches Milchvieh tarnten. Nichts an ihnen war wie bei anderen Kühen. Jede Silbe ihrer Namen, die außer Lilly und Oha niemand aussprechen konnte, hatte Bedeutung. Diese wohlklingenden Namen, die auch dann Gesang in Lillys Kehle zauberten, wenn sie nur sprach, waren allen anderen Menschen auf der Farm Last für Kopf und Zunge. Nicht eine Kuh verstand Suaheli, Kikuyu oder Jaluo. Oft versuchte Regina, wenn nur Chebeti mit Max im Wagen sie begleitete, mit Ariadne, Aida, Donna Anna, Gilda und Melisande über das Rätsel ihrer Herkunft zu reden. Die verhexten Kühe aber ließen sich die Sonne auf den Hinterkopf brennen, als hätten sie keine Ohren. Nur durch Lillys Mund konnten sie ihre Geheimnisse preisgeben. Arabella war die letzte. Sie war aber auch die erste, die Regina wittern ließ, daß in Lillys Paradies das Glück so empfindlich war wie die Blüten der zarten Hibiskus.
»Warum«, fragte Regina, »sprichst du zu Arabella wie zu einem Baby?«
»Ach, Kind, wie soll ich dir das erklären? Arabella war die letzte Oper, die ich sehen durfte. Oha und ich sind damals extra nach Dresden gefahren. Das kommt in diesem Leben nicht wieder. Dresdens Oper ist so kaputt wie meine Träume.«
Schon weil Lilly erst beim Frühstück vor einer Stunde gesagt hatte »Ich träume nie«, fiel es Regina schwer, hinter den Sinn ihrer Klage zu kommen, doch seit dem Tag von Arabellas Geschichte wußte sie, daß nicht nur Lillys Kühe ihre Geheimnisse hatten. Die Schloßherrin mit der Zauberstimme konnte zwar mit dem Mund so laut lachen, daß ihr Gelächter selbst in der kleinen Speisekammer ein Echo hatte, aber ihre Augen hatten oft Mühe, die Tränen zu halten. Dann zogen sich kleine Falten durch Lillys Gesicht. Sie sahen aus wie Wasserrinnen in ausgetrockneter Erde und ließen den Mund zu rot und die Haut dünn wie ein auf Steinen gespanntes Fell erscheinen.
Oha schien von einem ähnlichen Leiden geplagt. Zwar lachte er aus dem Hals, und seine Brust bebte, wenn er nach seinen Tieren rief, aber, nachdem erst Arabella Lilly verraten hatte, stellte Regina schnell fest, daß auch Oha nicht immer der freundliche, sanfte, von ihr seit ihren Kindertagen geliebte Riese war. In Wirklichkeit war er der wiedergeborene Archimedes, der seine Kreise nicht gestört sehen wollte.
Er hatte den Hühnern und Ochsen ihre Namen gegeben. Es gab die Hähne Cicero, Catalina und Caesar; auch Hennen waren bei Oha männlich und stammten aus Rom. Die schönsten hießen Antonius, Brutus und Pompejus. Wenn Lilly die Hühner zum Futter rief, setzte sich Oha oft in seinen Sessel, holte immer dasselbe Buch vom Kaminsims, und las, ohne ein Geräusch beim Umblättern der Seiten zu machen. Eine Weile lachte er stets so laut in seine Brust zurück, als hätte er sich an seiner Heiterkeit verschluckt. Beobachtete ihn Regina jedoch genau, dachte sie immer öfter an Owuor, der ihr als erster verraten hatte, daß Schlaf mit offenen Augen den Kopf krank machte.
Die Ochsen waren nach Komponisten benannt. Chopin und Bach waren die besten Zugtiere; der Bulle hieß Beethoven, sein jüngster Sohn seit vier Stunden Mozart. Am glückhaften Ende der langen Nacht, als er geboren wurde und Manjala wegen Desdemonas zu schwachen Wehen und ihrer plötzlich einset-zenden Atemnot seinen Bruder zu Hilfe holen mußte, schlug Lilly mit feierlicher Stimme vor, Regina sollte dem aus der Not geretteten Kalb seinen Namen geben.
»Warum Regina«, widersprach Oha, »sie kennt sich doch bei uns nicht aus. So ein Name ist doch eine Bindung für das ganze Leben.«
»Sei nicht albern«, sagte Lilly, »laß doch dem Kind die Freude.«
Regina war zu erfüllt von Desdemonas Glück, um zu merken, daß Lilly ihr soeben einen Teil von Ohas Beute zugeworfen hatte. Sie legte ihre Hand auf den Kopf der Kuh, ließ den Geruch von Zufriedenheit in ihre Nase und Erinnerungen in ihren Kopf, die sich zu schnell zum Kampf bereitmachten. Weil sie gleichzeitig an das tote Baby ihrer Mutter und an die Geburt ihres Bruders denken mußte, vergaß sie im Moment der verantwortungsvollen Entscheidung, daß das Vieh von Gilgil mit Musik verzaubert werden mußte. Die fast zu spät gelungene Rettung des kräftigen Kalbes kam ihr in den Sinn. »David Copperfield«, freute sie sich.
Oha schüttelte den Kopf, stieß mit einer für ihn ungewohnt heftigen Bewegung die Paraffinlampe in Manjalas Hand um und sagte, ein wenig böse: »Quatsch.« Das flackernde Licht machte seine Augen klein; die Lippen
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