Nirgendwo in Afrika
nur noch Regina«, erklärte Martin am Abend nach der Rückkehr aus Naro Moru. »Eher ziehe ich nicht in den Krieg. Ich habe mich so auf sie gefreut.«
»Sie hat erst in einer Woche Ferien.«
»Genau dann muß ich weg. Wie holt ihr sie eigentlich von der Schule ab?«
»Das Problem haben wir alle drei Monate. In der Zwischenzeit drückt es uns die Kehle zu. Wenn wir artig sind, bringt sie der Bure von der Nachbarfarm mit.«
»Ein Bure«, wiederholte Martin angeekelt, »so weit kommt's noch! So was kannst du doch nicht einfach einem Mann aus Südafrika ins Gesicht sagen. Ich hole sie. Ganz allein. Am besten am Donnerstag. Wir schicken ihr morgen ein Telegramm.«
»Eher können wir in Breslau vors Rathaus ziehen und den Nazis die Scheiben einwerfen. Die Schule gibt die Kinder keinen Tag vor den Ferien heraus. Die haben Regina noch nicht mal erlaubt, Jettel im Krankenhaus zu besuchen, obwohl Jettels Ärztin extra angerufen hat. Die Schule ist ein Gefängnis. Regina redet nicht darüber, aber wir wissen es schon lange.«
»Da warten wir erst mal ab, ob die sich trauen, ihren eigenen tapferen Soldaten etwas abzuschlagen. Am Donnerstag stehe ich vor dieser verdammten Schule und singe so lange >Rule Britannia<, bis sie mir das Kind mitgeben.«
11
Mr. Brindley raschelte mit dem Papier in seiner Hand und fragte dann: »Wer ist Sergeant Martin Barret?«
Regina war schon dabei, den Mund aufzumachen, als ihr klar wurde, daß ihr die Antwort nicht einmal in den Kopf gekommen war. Sie kaute noch ratloser als sonst an der Verlegenheit, die sie noch immer anfiel wie ein schlafloser Hund den Dieb bei Nacht, wenn sie im Zimmer des Direktors stand. Mit einer Mühe, die sie sonst nicht nötig hatte, zwang sie ihr Gedächtnis, sämtliche Bücher durchzugehen, die ihr Mr. Brindley in den letzten Wochen zum Lesen gegeben hatte, aber der von ihm soeben genannte Name weckte keine Erinnerungen.
Das Gefühl, Worten ausgeliefert zu sein, war Regina schon lange nicht mehr vertraut. Sie kam sich vor, als hätte sie durch eine Unachtsamkeit, die sie sich nicht erklären konnte, den besten Zauber ihres Lebens zerstört, indem sie sich seiner nicht würdig genug erwiesen hatte. Erschrocken streckte sie die Hand aus, um die einzige Macht festzuhalten, die aus der Schule, die sie haßte, eine winzige Insel machen konnte, in der nur Charles Dickens, Mr. Brindley und sie selbst wohnen durften. Und das seit langer Zeit.
Regina wußte besser Bescheid als jede andere ihrer Mitschülerinnen. Selbst Inge ahnte nichts von dem größten Geheimnis der Welt. Eine Fee, die während der furchtbaren drei Monate Schule in den Pfefferbüschen von Nakuru und in den Ferien in einer Hibiskusblume am Rande des größten Flachsfeldes in Ol' Joro Orok wohnte, hatte Mr. Brindley in zwei Hälften geteilt. Der gefürchtete Teil von ihm, den alle kannten, mochte keine Kinder, war böse, ungerecht und bestand nur aus Schulordnung, Strenge, Strafe und Rohrstock.
Mr. Brindleys verzauberte Hälfte war sanft wie der Regen, der in einer einzigen Nacht den durstenden Rosen aus den Samen ihres Großvaters neues Leben gab. Dieser fremde Mann, der seltsamerweise auch Arthur Brindley hieß, liebte David Copperfield und Nicholas Nickleby, Oliver Twist, den armen Bob Cratchitt und seinen winzigen Tim. Besonders liebte Mr. Brindley natürlich Little Nell. Regina hatte ihn sogar im Verdacht, daß er auch die bloody Refugee aus Ol' Joro Orok ganz gern hatte, aber sie gönnte sich diese Vorstellung nur selten, weil sie wußte, daß Feen keine eitlen Menschen mochten.
Es war sehr lange her, seitdem Mr. Brindley Regina zum erstenmal Little Nell genannt hatte. Sie konnte sich aber noch so gut an den Tag erinnern, an dem der Zauber begonnen hatte, weil es schließlich etwas sehr Besonderes war, wenn einem jüdischen Mädchen ein englischer Name ausgeliehen wurde. Mit den Jahren war die immer wiederkehrende und leider stets zu kurze Zeit, in der Regina diesen süßen und leicht aussprech-lichen Namen behalten durfte, zu einem Spiel mit jenen schönen festen Regeln geworden, wie sie zu Hause Owuor und Kimani verlangten.
Der Direktor ließ Regina oft in der einzigen freien Stunde des Tages, zwischen Hausaufgaben und Abendessen, zu sich kommen. Im ersten furchtbaren Moment war sein Mund sehr klein, und in den Augen brannten Funken wie beim geizigen Scrooge in der »Weihnachtsgeschichte«. Wenn Regina die wenigen Schritte von der Tür bis zum Schreibtisch lief und dabei den Atem anhielt,
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