Nirgendwo in Afrika
Er kam sich wie ein sentimentaler und seniler Dummkopf vor, der sich absolut unpassende Probleme aufbürdete, weil er seinen Verstand nicht scharf genug und sein Herz ungeschützt hielt. Es war nicht gut, sich mit einem Kind mehr zu beschäftigen als nötig, und er hatte es ja auch nie zuvor getan, aber Reginas Talent, ihr gieriger Lesehunger und seine in den monotonen Berufsjahren zu kurz gekommene Liebe zur Literatur waren eine Verbindung eingegangen, die ihn zum süchtigen Gefangenen einer geradezu grotesken Leidenschaft gemacht hatten.
In grüblerischen Momenten fragte er sich, was in Regina vorging, wenn er sie mit Büchern vollstopfte, die sie noch gar nicht verstehen konnte; nach jedem Gespräch nahm er sich vor, das Kind überhaupt nicht mehr kommen zu lassen. Daß er nie bei seinem Entschluß blieb, empfand er als ebenso peinlich wie unwürdig für einen Mann, der Schwäche immer verachtet hatte, aber die Einsamkeit, die er in jungen und noch in mittleren Jahren überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatte, war im Alter dominierender als seine Willenskraft geworden, er selbst für Stimmungen so empfänglich wie seine Knochen empfindlich gegen die feuchte Luft vom Sodasee.
Regina faltete das Telegramm so klein, daß es ihrer Fee als Matratze dienen konnte, und steckte es in die Tasche ihrer Schuluniform. Sie gab sich große Mühe, wenigstens nicht bei Tag daran zu denken, aber das gelang ihr nicht. Das Papier knisterte bei jeder Bewegung und manchmal so laut, daß sie glaubte, jeder würde die verräterischen Töne hören und sie anstarren. Das Telegramm mit dem großen schwarzen Stempel erschien ihr wie eine Botschaft von einem unbekannten König, von dem sie sicher war, daß er sich ihr zu erkennen geben würde, wenn sie nur fest genug an ihn glaubte.
Sobald es Zeit wurde, ihr Fantasie schloß zu verriegeln, peitschte sie ihr Gedächtnis so unbarmherzig aus wie ein Tyrann seine Sklaven, um herauszubekommen, ob sie den Namen je gehört hatte. Sehr bald begriff Regina jedoch, daß es sinnlos war, nach Sergeant Martin Barret in den Geschichten zu suchen, die ihre Eltern erzählten. Zweifellos hatte der König aus der Fremde einen englischen Namen, aber außer Mr. Gibson, Papas jetzigem Chef, und Mr. Morrison, dem aus Rongai, kannten ihre Eltern gar keine Engländer. Es gab natürlich auch Dr. Charters, der schuld an dem toten Baby war, weil er Juden nicht behandeln wollte, aber Regina fand, daß der ohnehin nicht in Frage kam, wenn ausgerechnet ihr etwas Gutes widerfahren war.
Sie hoffte und fürchtete zugleich, daß der Direktor sie noch einmal auf den Sergeant ansprechen würde, aber, obwohl sie den ganzen Mittwoch in jeder freien Minute auf dem Korridor herumstand, der zu Mr. Brindleys Zimmer führte, sah sie ihn nicht. Donnerstag war Reginas Lieblingstag, denn da gab es Post aus Ol' Joro Orok, und ihre Eltern gehörten zu den wenigen, die auch noch in der letzten Woche vor den Ferien schrieben. Die Briefe wurden nach dem Mittagessen verteilt. Regina wurde auch aufgerufen, aber statt ihr ein Kuvert auszuhändigen, befahl ihr die Lehrerin, die Mittagsaufsicht hatte: »Du sollst sofort zu Mr. Brindley kommen.«
Schon hinter dem Rosenbeet und erst recht, als sie genau in der Mitte von den zwei runden Säulen stand, sagte die Fee Regina Bescheid, daß ihre große Stunde gekommen war. Im Zimmer des Direktors stand der König, der Telegramme an unbekannte Prinzessinnen verschickte. Er war sehr groß, trug eine zerknitterte Khakiuniform, hatte Haare wie Weizen, der zuviel Sonne abbekommen hat, und Augen, die im kräftigen Blau leuchteten und plötzlich so hell wurden wie das Fell von Dik-Diks in der Mittagsglut.
Reginas Augen fanden Zeit, mit sehr viel Ruhe von den glänzenden schwarzen Stiefeln zu der Mütze zu wandern, die etwas schief auf dem Kopf saß. Als sie endlich fertig mit Schauen war, einigte sie sich mit dem Klopfen in ihrer Brust, daß sie noch nie einen schöneren Mann gesehen hatte. Er sah Mr. Brindley so furchtlos an, als sei der Direktor ein Mann wie jeder andere, nicht zweigeteilt, und als seien seine beiden Hälften so leicht zum Lachen zu bringen wie Owuor, wenn er »Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren« sang.
Es gab keinen Zweifel, daß Mr. Brindley drei seiner Zähne zeigte; das bedeutete bei ihm Lachen. »Das ist Sergeant Barret«, sagte er, »und wie ich höre, ist er ein sehr alter Freund von deinem Vater.«
Regina wußte, daß sie nun etwas sagen sollte, aber ihr kam kein
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