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Nirgendwo in Afrika

Titel: Nirgendwo in Afrika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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machte Mr. Brindley den Eindruck, als hätte er sie nur gerufen, um ihr eine Strafe zuzuteilen.
    Nach einer Zeit aber, die Regina immer sehr lang vorkam, stand er auf, ließ Luft in seine Lippen, löschte das Feuer in den Augen, lächelte und holte ein Buch aus dem Schrank mit dem goldenen Schlüssel. An besonders guten Tagen verwandelte sich der kleine Schlüssel in die Flöte, auf der Pan, der Gott der blauen Flachsfelder und grünen Hügel, in der Stunde der langen Schatten spielte. Das Buch war immer von Dickens und hatte einen weichen Einband von dunkelrotem Leder; stets sagte der zweigeteilte Direktor, während Regina es mit einer Beklommenheit entgegennahm, als sei sie bei einem Verstoß gegen die Schulregeln ertappt worden: »In drei Wochen bringst du es zurück und erzählst mir, was du gelesen hast.«
    Es passierte nur sehr selten, daß Regina Mr. Brindleys Fragen nicht beantworten konnte, wenn sie ihm das Buch zurückgab. In den letzten vier Wochen vor den Ferien hatten die beiden oft so lange über die wunderschönen Geschichten gesprochen, die Dickens nur ihnen beiden erzählte, daß Regina zu spät zum Abendessen gekommen war, aber die Strafen von der Lehrerin, die Aufsicht im Speisesaal führte und immer so tat, als wisse sie nicht, wo Regina gewesen war, wogen leicht im Verhältnis zu der Freude an dem ewigen Zauber.
    In den Ferien nach dem Tod des Babys hatte Regina zum erstenmal versucht, ihrem Vater davon zu berichten, aber der hielt Feen für »englischen Quatsch« und war außer Oliver Twist, der ihm nicht gefiel, keinem Menschen begegnet, den Dickens, Mr. Brindley und sie selbst kannten. Weil Regina ihren Vater nicht aufregen wollte, sprach sie nur dann noch von Dickens, wenn ihr Mund schneller war als ihr Kopf.
    »Ich habe«, wiederholte der Direktor ungeduldig, »dich gefragt, wer Sergeant Martin Barret ist.«
    »Ich weiß nicht, Sir.«
    »Was heißt das, du weißt nicht?«
    »Nein«, sagte Regina betreten, »in keinem Buch, das Sie mir gegeben haben, gibt es einen Sergeant. Das wäre mir aufgefallen, Sir. Ganz bestimmt hätte ich mir das gemerkt.«
    »Verdammt, Little Nell. Ich rede nicht von Dickens.«
    »Oh, Pardon, Sir. Das habe ich nicht gewußt. Ich meine, das konnte ich nicht ahnen.«
    »Ich rede von Mr. Barret hier. Er schickt dir ein Telegramm?«
    »Mir, Sir? Er schickt mir ein Telegramm? Ich habe noch nie ein Telegramm gesehen.«
    »Hier«, sagte der Direktor und hielt das Papier hoch, »lies es laut vor.«
    »Hole dich Donnerstag ab. Informiere Direktor«, las Regina und merkte zu spät, daß ihre Stimme viel zu laut für Mr. Brind-leys empfindliche Ohren war. »Muß in einer Woche an die
    Front«, flüsterte sie.
    »Hast du vielleicht einen Onkel, der so heißt?« fragte Mr. Brindley und verwandelte sich für einen schrecklichen Augenblick in Scrooge am Vorabend vom Weihnachtstag.
    »Nein, Sir. Ich habe nur zwei Tanten. Und die mußten in Deutschland bleiben. Ich muß jeden Abend für sie beten, aber ich mache das nie laut, weil ich so was in Deutsch sagen muß.« Mr. Brindley spürte verärgert, daß er dabei war, ungerecht, ungeduldig und sehr unwirsch zu werden. Er genierte sich ein wenig, aber er mochte es nun einmal nicht, wenn aus Little Nell die verdammte kleine Fremde mit jenen nun wirklich unlösbaren Problemen wurde, von denen er gelegentlich in den Zeitungen aus London las, falls er die Energie aufbrachte, die Berichte auf den Innenseiten gründlich genug zu studieren. Im »East African Standard«, den er regelmäßiger und seit dem Krieg auch sehr viel lieber las, kamen zum Glück kaum Dinge jenseits seiner Vorstellungswelt vor.
    »Du mußt doch Mr. Barret kennen, wenn er dir ein Telegramm schickt«, bohrte Mr. Brindley. Er gab sich keine Mühe mehr, seine Mißstimmung zu verbergen. »Auf alle Fälle soll er sich nicht einbilden, daß du fünf Tage vor den Ferien nach Hause kannst. Du weißt, daß das ganz gegen die Schulregeln ist.«
    »Oh, Sir, das will ich gar nicht. Für mich ist es schon genug, daß ich ein Telegramm bekomme. Es ist genau wie bei Dickens, Sir. Da haben auch die armen Leute eines Tages plötzlich Glück. Wenigstens manchmal.«
    »Du kannst gehen«, sagte Mr. Brindley und klang, als hätte er seine Stimme suchen müssen.
    »Darf ich das Telegramm behalten, Sir?« fragte Regina schüchtern.
    »Warum nicht?«
    Arthur Brindley seufzte, als Regina die Tür zuzog. Als seine
    Augen zu tränen begannen, merkte er, daß er sich schon wieder erkältet hatte.

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