Nirgendwo in Afrika
einziges Wort aus der Kehle. So nickte sie nur und war froh, daß Mr. Brindley bereits weitersprach.
»Sergeant Barret«, sagte er, »kommt aus Südafrika und wird in zwei Wochen an der Front sein. Er möchte noch einmal deine Eltern sehen und dich heute schon für die Ferien nach Hause nehmen. Das bringt mich in eine recht ungewohnte Lage. In dieser Schule sind noch nie Ausnahmen gemacht worden, und wir werden es auch künftig so halten, doch schließlich sind wir im Krieg und müssen alle lernen, unser ganz persönliches Opfer zu bringen.«
Es war leicht, bei diesem Satz Mr. Brindley tapfer anzuschauen und gleichzeitig das Kinn fest auf die Brust zu drük-ken. Wann immer von Opfern die Rede war, hatten sich die Kinder so zu verhalten, um patriotische Begeisterung zu zeigen. Trotzdem war Regina so verwirrt, als wäre sie ausgerechnet zum Anbruch der Nacht ohne Lampe in den Wald gelaufen. Erstens hatte sie Mr. Brindley noch nie so lange reden hören, und zweitens waren die Opfer, die der Krieg verlangte, meistens die Erklärung, weshalb es keine Hefte, Bleistifte, Marmelade zum Frühstück oder Pudding zum Abendessen gab, sobald die traurige Nachricht kam, daß ein englisches Schiff untergegangen war. Regina überlegte, weshalb ein Soldat aus Südafrika, der sie vier Tage vor Schulschluß schon für die Ferien abholen wollte, ein Opfer war, aber ihr fiel wieder nur ein, daß ihr Kinn auf die Brust gehörte.
»Ich werde«, beschloß Mr. Brindley, »einem unserer Soldaten den Wunsch nicht abschlagen dürfen, dich heute schon nach Ol' Joro Orok mitzunehmen.«
»Regina, willst du dich denn nicht bei deinem Direktor bedanken?«
Regina begriff sofort, wie vorsichtig sie sein mußte, und machte ihr Gesicht steif, obwohl sie fast sicher war, daß in ihrem Hals die Feder eines Flamingokükens steckte. Ihr gelang es nur im allerletzten Moment, das verräterische Kichern hinunterzuschlucken, das den Zauber zerstört hätte. Der Soldatenkönig aus Südafrika würgte an den englischen Lauten genauso schwer herum wie Oha und hatte in dem ganzen Satz nur ein einziges Wort richtig ausgesprochen, und das war ausgerechnet ihr eigener Name.
»Ich danke. Sir, ich danke sehr, Sir.«
»Geh und sage Miß Chart, sie soll dir beim Packen helfen, Little Nell. Wir dürfen Sergeant Barret nicht zu lange warten lassen. Zeit ist kostbar im Krieg. Das wissen wir alle.«
Schon eine Stunde später ließ Regina die Luft aus ihren Lungen, holte sie zurück und befreite ihre Nase von dem verhaßten Geruch scharfer Seife, Lauch, Hammelfleisch und Schweiß, der für sie ebenso zu den Bedrohungen der Schule gehörte wie die Tränen, die ein Kind verschlucken mußte, ehe sie in den Augen zu harten Körnern von Salz wurden. Während sie den Knoten ihrer Schulkrawatte löste und den engen Rock der Uniform so hochzog, daß ihre Knie die Sonne fanden, fielen dem Wind immer neue Spiele mit ihrem Haar ein. Jedesmal, wenn sie durch das feine schwarze Netz blickte, wurde die weiße Schule auf dem Berg ein Stück dunkler. Als sich die vielen kleinen Gebäude endlich in ferne Schatten ohne Konturen auflösten, wurde der Körper so leicht wie der eines jungen Vogels, der zum erstenmal seine Flügel benutzt.
Noch wagte Regina nicht, ein Wort zu sagen, und aus Angst, der König aus Südafrika könne sich zurück in einen Wunsch verwandeln, mit dem sie nur Herz und Kopf betrogen hatte, zwang sie sich auch, Martin nicht anzusehen. Allein auf seine Hände, die das Lenkrad so fest umfaßten, daß die Knöchel zu weißen Edelsteinen wurden, durfte sie schauen.
»Warum nennt dich der alte Vogel Little Nell?« fragte Martin, als er den Jeep aus Nakuru heraus und die staubige Straße hinauf nach Gilgil lenkte.
Regina lachte, als sie den König Deutsch und im gleichen Tonfall wie ihren Vater sprechen hörte. »Das ist«, sagte sie, »eine lange Geschichte. Verstehst du etwas von Feen?«
»Klar. Bei deiner Geburt stand eine an deiner Wiege.«
»Was ist eine Wiege?«
»Paß auf, du erzählst mir alles, was du von Feen weißt. Und ich erkläre dir, was eine Wiege ist.«
»Und sagst du mir auch, warum du gelogen hast, daß du ein Freund von Papa bist?«
»Ich hab' nicht geschwindelt. Dein Papa und ich sind ganz alte Freunde. Wir waren zusammen jung. Und deine Mutter war nicht viel älter als du, als ich sie zum erstenmal sah.«
»Ich hab' gedacht, du willst mich kidnappen.«
»Wohin?«
»Wo es keine Schule gibt und keine Chefs. Und keine reichen Leute, die arme
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