Nirgendwo in Afrika
sehen würde, überhaupt nicht erwähnt. »England«, schrieb sie in rot unterstrichenen Blockbuchstaben, »expects every man to do his duty. Admiral Nelson.«
Als Walter den Satz mit Hilfe des kleinen Lexikons, das seit dem ersten Tag bei der Army seine einzige Lektüre war, endlich übersetzt und festgestellt hatte, daß er ihm schon in der Unterprima begegnet war, konnte er sich nicht entscheiden, ob er vom Schicksal oder von seiner Tochter verspottet wurde. Beide Möglichkeiten mißfielen ihm.
Es quälte ihn, daß er nicht wußte, ob Regina tatsächlich so erwachsen, patriotisch und vor allem schon so englisch war, daß sie ihre Gefühle nicht zeigte, oder doch nur ein verwundetes Kind, das dem Vater zürnte. Bei solchen Grübeleien wurde ihm stets nur eines klar: Er wußte zu wenig von seiner Tochter, um ihre Reaktion zu deuten. Zweifelte er auch nicht an ihrer Liebe, so machte er sich doch keine Illusionen. Er und sein Kind hatten keine gemeinsame Muttersprache mehr.
Einen Augenblick lang, während er sich noch gegen die Geräusche des anbrechenden Tages taub machte, stellte sich Walter vor, er würde, wenn er erst Englisch gelernt hätte, nie mehr mit Regina Deutsch sprechen. Er hatte gehört, daß viele Emigranten es so hielten, um ihren Kindern die Sicherheit zu geben, daß sie in ihrem neuen Lebenskreis fest verwurzelt waren. Das Bild, wie er beschämt und verlegen Worte herausstotterte, die er nicht aussprechen konnte, und mit den Händen reden mußte, um sich verständlich zu machen, hatte in der beginnenden Morgendämmerung grotesk scharfe Umrisse.
Walter hörte Regina lachen, erst leise, dann herausfordernd laut. Ihr Gelächter klang wie das verhaßte Heulen der Hyänen. Der Gedanke, daß sie sich über ihn lustig machte und er sich nicht wehren konnte, versetzte ihn in Panik. Wie sollte er je in einer fremden Sprache seiner Tochter erklären, was geschehen war, um sie alle und für immer zu Außenseitern zu machen, wie in Englisch von einer Heimat reden, die sein Herz marterte?
Nur mit großer Anstrengung gelang es ihm, sich zu der Ruhe zu zwingen, die er für den Tag brauchen würde. Hungrig drehte er an den Knöpfen des Radios, um die von ihm selbst beschworenen Gespenster loszuwerden. Als er merkte, daß kalter Schweiß von seinem Nacken den Rücken heruntertropfte, begriff er schaudernd, daß die Vergangenheit ihn eingeholt hatte. Es war das erstemal, seitdem er bei der Army war, daß ihn die verdrängte Erkenntnis befiel. Er trug das Brandmal der Heimatlosigkeit auf der Stirn und würde zeit seines Lebens ein Fremder unter Fremden bleiben.
Wortfetzen erreichten Walters Ohr. Sie waren, obwohl das Radio nicht voll aufgedreht war, laut, aufgeregt und manchmal fast hysterisch, und doch beruhigten sie zunächst seine verwirrten Sinne. Bald merkte er, daß die Stimme des Nachrichtensprechers anders klang als sonst. Walter versuchte, die einzelnen Silben zu Worten zusammenzuziehen, aber das gelang ihm nicht. Er holte ein neues Blatt Papier aus dem Schrank und zwang sich, jeden aufgefangenen Laut in Buchstaben umzusetzen. Sie ergaben keinen Sinn, und doch begriff er, daß zwei Worte mehrmals in einem kurzen Zeitabstand wiederholt wurden und sehr wahrscheinlich »Ajax« und »Argonaut« hießen. Walter staunte, daß er die beiden vertrauten Namen trotz der nasalen englischen Aussprache erkannt hatte. Das Bild vom Lehrer Gladisch an der Fürstenschule zu Pless und wie er mit unbewegtem Gesicht die Hefte nach einer Griechischarbeit verteilte, schob sich vor Walters Augen, doch er hatte keine Zeit mehr, nach der Erinnerung zu greifen. Der weiche Holzboden stieß neue Töne in den Raum.
Sergeant Pierce war zeitgleich mit der aufgehenden Sonne erschienen. Seine Schritte hatten schon die Kraft, die ihn in Stolz hüllte, aber der Rest von seinem Körper kämpfte noch gegen die Nacht, die so gleichgültig mit seinem Talent umging, Untergebene in die überschaubare, gesicherte Welt seiner Flüche und Kompromißlosigkeiten zu zwingen. Der Sergeant fuhr sich ohne Energie und Konzentration durch sein dichtes Haar, gähnte ein paarmal wie ein Hund, der zu lange in der Sonne gelegen hat, machte sehr langsam seinen Gürtel zu und schaute sich suchend um. Es war, als warte er auf ein bestimmtes Zeichen, um den Tag zu beginnen.
Wie er Walter stumm und aus noch zu kleinen Augen anstarrte, sah er aus wie eine vom Lauf der Geschichte längst überholte Statue, doch dann fuhr das Leben mit unvermuteter Plötzlichkeit
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