Nirgendwo in Afrika
als Soldat zu viel Erfahrung mit Alkohol und als ein Kind der Londoner Slums zu viele Menschen im Fieberwahn erlebt hatte, um bei der großen Siegesfeier Walters Zustand zu mißdeuten. Als Pierce in der Messe den komischen Vogel vom Kontinent zusammenbrechen sah, ließ er sich keinen Moment von den Vorschlägen seiner jubelnden Kameraden beirren, die Walter in einen Bottich mit kaltem Wasser tauchen wollten. Pierce sorgte für Walters umgehenden Abtransport ins Hospital. Seine Tat sprach sich bis nach Nairobi herum, zeugte sie doch für das außergewöhnliche Organisationstalent eines befähigten Soldaten, der an einem Tag wie dem der Landung in der Normandie einen nüchternen Fahrer aufgetrieben hatte.
Obwohl er ausreichenden Grund hatte, sich ausschließlich mit seiner eigenen Person zu beschäftigen, denn erste Gerüchte von seiner Beförderung zum Sergeantmajor waren zu ihm gedrungen, ließ er sich täglich über den Verlauf von Walters Krankheit unterrichten. Von diesem ihm absonderlich anmutenden Verhalten sprach er so wenig wie möglich; Pierce empfand sein Interesse an einem einzelnen seiner Leute als nicht ganz passend und vor allem als Bevorzugung, die seiner nicht würdig war. Sie beunruhigte ihn. Erklären konnte er sich diesen seltsamen Ausflug ins Private nur mit dem Umstand, daß es der funny Refugee gewesen war, mit dem er zusammen von dem »Ding in der Normandie« erfahren hatte. Gelegentlich wurde er geneckt, weil er wiederholt »funny« und nur noch ausnahmsweise »bloody« sagte, aber Pierce neigte nicht dazu, sich mit der Untersuchung von sprachlichen Finessen aufzuhalten, und so sah er auch keinen Anlaß zur Korrektur.
Nach einer Woche besuchte er Walter im Hospital und erschrak, als er ihn apathisch mit blauen Lippen und gelber Hautfarbe im Bett liegen sah. Walters Freude, ihn zu sehen, und daß er tatsächlich »Cheers« sagte und dazu noch mit dem schönen Cockney-Akzent, rührten Pierce. Die beiden Männer konnten sich nach dieser vielversprechenden Begrüßung indes nur noch schweigend ansehen, aber wenn die Pausen zu lang wurden, dann sagte der Sergeant »Normandy«, und Walter lachte, worauf Pierce fast immer in die Hände klatschte und sich dabei nie lächerlich vorkam. Bei seinem Besuch am Anfang der zweiten Woche brachte er Kurt Katschinsky mit, den Radiohändler aus Görlitz, und begriff, zum erstenmal in seinem Leben, wie wichtig es doch war, daß sich Menschen verständigen konnten.
Der gut genährte, wortkarge Abgesandte des Himmels in kniekurzen Khakihosen, der Katschinsky hieß und eigentlich dabei war, seine Muttersprache zu verlernen, erklärte Walter die Sache mit dem Schwarzwasserfieber und erlöste ihn endlich von den selbstquälerischen Vorwürfen, die ihn hatten glauben lassen, er hätte sich wie ein Trottel benommen und mit Alkohol vergiftet. Seinem Sergeant, der bei schweren Krankheiten verpflichtet war, für den Besuch der Ehefrau im Krankenhaus zu sorgen, von Jettel jedoch keine Anschrift hatte, erzählte Katschinsky, daß Walter eine zwölfjährige Tochter in der nur einige Meilen entfernten Schule habe. Bereits am nächsten Tag erschien Pierce mit Regina.
Als Walter seine Tochter auf Zehenspitzen in den Krankensaal hereinkommen sah, war er sicher, daß er einen Rückfall und wieder hohes Fieber hatte. Er schloß rasch die Augen, um das schöne Bild festzuhalten, ehe es sich als Trug dekuvrierte. In den ersten Tagen seiner Krankheit hatte er immer wieder erlebt, wie sein Vater und Liesel an seinem Bett saßen und zu körperlosen Wesen wurden, sobald er sie ansprach; auf keinen Fall durfte er den irreparablen Fehler bei Regina wiederholen.
Walter machte sich klar, daß seine Tochter noch zu jung war, um zu begreifen, was mit Refugees geschah, die nicht vergessen wollten. Es war für beide gnädiger, keinen Kontakt aufzunehmen und sich dann auch nicht wieder trennen zu müssen. Regina würde ihm eines Tages dankbar sein. Als ihm bewußt wurde, daß sie nicht aus seinen Erfahrungen lernen wollte, hielt er abwehrend die Hände vor sein Gesicht.
»Papa, Papa, erkennst du mich nicht?« hörte er sie sagen.
Ihre Stimme kam aus so großer Ferne, daß Walter sich nicht entscheiden konnte, ob seine Tochter ihn aus Leobschütz oder aus Sohrau gerufen hatte, aber er spürte, daß keine Zeit zu verlieren war, wenn er sie noch rechtzeitig in Sicherheit bringen wollte. Es war eine tödliche Gefahr, einfach in der Heimat herumzustehen, als sei sie ein Kind wie andere Kinder
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