Nixenblut
zieht Conor zu sich, so wie es mich angezogen hat.
Wie spät mag es sein? Das Wasser zieht sich zurück. Ich erinnere mich, wie das Meer an meinen Füßen sog, mich in die Tiefe zerren wollte …
Warte, Conor! Warte auf mich! Ich komme!
Sechstes Kapitel
G eh nie alleine zu der Bucht. Hast du das verstanden, Sapphire? Wenn überhaupt, dann gehst du nur zusammen mit Conor. «
»Aber, Mum … «
»Versprich mir, dass du niemals – niemals! – alleine gehst. Es ist zu deiner eigenen Sicherheit. «
»Ich kann genauso gut schwimmen wie er. «
»Ich weiß. Aber du bist so verträumt. Und wenn die Flut kommt, während du dich gerade in Gedanken verlierst, dann kann ich dir nicht helfen. Versprich es mir. «
»Conor soll es auch versprechen. «
»Das hat er schon. «
»Okay, Mum, ich verspreche es.«
Dieses Gespräch ist schon mehrere Jahre her, doch die Worte hämmern in meinem Kopf, während ich mir langsam meinen Weg durch den Nebel bahne. Unheimliche Gestalten umgeben mich, doch wenn ich ihnen ganz nahe komme, sind es nur Büsche. Der wallende, feuchte Nebel hat sich hinter mir geschlossen. Von den Häusern ist nichts mehr zu sehen.
Ich rutsche aus und stürze, rappele mich auf und reibe mein aufgeschürftes Knie. Kiesel knirschen unter meinen Füßen. Nasser Adlerfarn peitscht meine Beine. Ich höre
den klagenden Laut des Nebelhorns und das Echo des Meeres:
Gefahr. Gefahr. Haltet euch fern.
Aber ich muss weitergehen. Dieser Pfad wird mich zu Conor führen. Ich muss ihm nur folgen. Mein Herz schlägt so heftig, als wäre es in meinem Mund. Ganz ruhig, Sapphire. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Es ist doch nur Nebel.
Vorsichtig betrete ich den grasbewachsenen Felsvorsprung. Ich habe fast die Klippe erreicht, kann aber ihre Kante nicht sehen. Das Gras ist nass, ich habe Angst auszurutschen. Ich knie mich hin und krieche auf allen vieren langsam vorwärts.
Haaaa, sagt das Meer, haaaa. Ich krabbele weiter, indem sich meine Finger an den rauen Grasbüscheln festkrallen. Ich will nicht über die Kante stürzen, was auch immer passiert.
Hier ist sie. Ich lege mich flach auf den Bauch, beuge mich vor und starre in die Tiefe. Unter mir treibt immer dickerer Nebel in die Bucht. Dennoch kann ich die Umrisse der Felsblöcke ausmachen, die wie dunkle Köpfe aus dem Dunst ragen. So in etwa erkenne ich den Weg, den ich über die feucht glänzenden Steine nehmen muss, aber ich darf nicht ausrutschen.
Ich versuche, mich zu erinnern, wie hoch das Wasser um diese Zeit steht. Vermutlich ist Ebbe, kurz vor dem Gezeitenwechsel. Im Moment bin ich in Sicherheit. Ich lasse mich behutsam über die Kante gleiten und suche mit den Füßen nach Halt.
Du bist schon tausendmal hier gewesen. Es kann nichts passieren. Doch mein Herz pocht und meine Achseln sind
schweißnass. Klettern im Nebel ist wie Schreiben mit dicken Handschuhen. Schönschrift ist da nicht möglich. Mein linker Fuß spürt einen Widerstand, ich setze ihn ab. Vorsichtig verlagere ich mein Gewicht. Nein! Ich verliere den Halt und beginne zu rutschen. Meine Finger klammern sich an einem Pflanzenbüschel fest. Am liebsten würden sie sich für alle Zeit dort festhalten, aber das ist unmöglich.
Sei nicht blöd, Sapphire! Du wirst nicht fallen. Aber du kannst auch nicht an diesem Felsen hängen bleiben. Niemand wird kommen, um dir zu helfen. Außerdem musst du Conor finden.
Ich atme tief durch. Meine Füße wissen von allein, wohin sie gehen müssen, solange ich nicht in Panik gerate. Sie wissen, welcher Schritt der nächste ist, weil sie jahrelange Erfahrung haben.
Ich hole noch einmal tief Luft. Immer mit der Ruhe. Ich lasse das Pflanzenbüschel los. Mein rechter Fuß findet den nächsten Absatz, so wie ein Schlüssel den Weg ins Schloss findet. Die glitschigen Felsen hinunter, zwischen den Felsblöcken hindurch, über die Steine. Das Tropfen von Wasser hallt unheimlich durch den Nebel. Ich höre das ferne Brechen der Wellen, aber ich kann sie nicht sehen. Ich bewege mich so leise, wie ich kann. Ich will nicht, dass mich jemand kommen hört.
Endlich, endlich spüre ich festen, feinen Sand unter meinen Füßen. Ich bin wohlbehalten an unserem Strand angekommen. Meine Beine zittern, aber ich habe es geschafft! Ich habe es allein geschafft, im Nebel, ohne Conor.
Herzlichen Glückwunsch, Kleine!, verhöhnt mich eine innere Stimme . Aber freu dich nicht zu früh. Oder hast du Conor etwa schon gefunden?
Das wird nicht mehr lange dauern, antworte ich mir
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