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Nixenblut

Nixenblut

Titel: Nixenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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nicht fragen.
    »Ich habe sie vor ihrem Tod also gar nicht mehr gesehen«,
fährt Mum fort. »Doch ungefähr zwei Wochen später, nach der Beerdigung, als ich bei uns zu Hause im Garten war – ich hatte noch nicht wieder begonnen zu arbeiten und half solange Dad –, da habe ich auf einmal ihre Stimme gehört. ›Jennie?‹, sagte sie, und ich fragte: ›Ja?‹ Dann sagte sie: ›Mach dir keine Sorgen um mich, Jennie. Mir geht es gut.‹«
    Ich starre Mum an. Davon hat sie mir noch nie erzählt.
    »Hat sie noch mehr gesagt?«
    »Nein, aber ich hatte das Gefühl, dass sie bei mir ist. Sie streichelte meine Wange, wie sie es getan hat, als ich ein Kind war. Und ich habe es genauso deutlich gespürt.«
    »War sie ein Geist?«
    »Nein, sie war ganz sie selbst. Doch dann war sie plötzlich verschwunden. Weißt du, Sapphy, du bist die Allererste, der ich davon erzähle.«
    Mum lächelt, aber ihre Augen sind feucht.
    »Macht es dich traurig, wenn du an deine Mutter denkst?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich rede gern von ihr. Komm her, Sapph. Lass dich umarmen.«
    Ich nehme sie so fest in den Arm, dass sie fast keine Luft mehr bekommt. Ich stelle mir vor, Mum würde plötzlich sterben und nur noch als Geist wiederkehren, der sich auf dem Pfad vor dem Haus zeigt, bevor er verschwindet. Sie scheint ja glücklich darüber zu sein, dass ihre Mum das getan hat, aber ich lege bestimmt keinen Wert darauf.
    »Versprich mir, dass du das nie tun wirst«, flüstere ich.
    »Was?«
    »Du weißt schon. Versprich es! Du wirst niemals …«
    »Niemals?«
    »Verschwinden.«

    Mum atmet tief durch. Ich spüre, wie sich ihre Rippen nach oben bewegen, als sich ihre Lungen mit Luft füllen.
    »Ich verspreche es, Sapphy.«

Neunzehntes Kapitel

    S obald Mum aus dem Haus ist, machen wir uns auf den Weg zu Granny Carne. Ihr Haus liegt im Hinterland und scheint aus den Hügeln förmlich herauszuwachsen. Die grauen Steinwände wirken aus der Ferne wie ein Bestandteil der Felsen. Der Pfad, der zu ihrem Haus führt, ist so eng und steil, dass nicht einmal ein Jeep ihn bewältigen würde. Die Sonne knallt uns die ganze Zeit auf den Rücken, sodass wir völligverschwitzt und erschöpft sind, als wir ans Ziel gelangen.
    Seite an Seite stehen wir schließlich vor Granny Carnes Haustür.
    »Komm schon, klopf an!«
    Conors Klopfen hallt durch die Stille. Ein paar Bienen summen, der Wind rauscht, doch niemand öffnet. Er klopft lauter.
    »Sie ist nicht da.«
    Enttäuscht blicken wir uns an. Die ganze Kletterei war umsonst.
    »Was machen wir jetzt?«
    »Keine Ahnung.«
    »Sollen wir zurückgehen?«
    »Nein, lass uns warten. Vielleicht kommt sie bald wieder.«
    Wir sitzen auf dem rauen Gras. Hierher kommen die Leute also, wenn sie Probleme haben. Sie sprechen mit Granny Carne, die ihnen Dinge sagt, die sonst niemand weiß. Über
die Vergangenheit und die Zukunft. Die Leute sagen, sie könne in die Zukunft blicken wie eine Wahrsagerin. Dad sagte immer, wo andere vor verschlossenen Türen stehen, blickt sie durch ein Fenster. Sie sieht ohne weiteres hindurch. Ich dachte immer an reale Türen und habe mir vorgestellt, wie Granny Carne sie mit einer Geste in Glas verwandelt, wie in einem Märchenbuch.
    Conor will einen Käfer verleiten, einen Grashalm hinaufzukrabbeln. Wir hocken uns nebeneinander, um ihn zu beobachten. Ich kneife die Augen zusammen, worauf sich der Grashalm in einen dicken Baumstamm verwandelt. So muss er auch für den Käfer aussehen, wie ein großer, rauer Baumstamm, den es zu erklimmen gilt. Vielleicht gibt es eine Käferwelt, so wie es die Welt der Mer gibt. In der Käferwelt wirken Schuhe wie Felsblöcke und Blumen sind so groß wie Wagenräder. Ich bin ein Riese und jede Pfütze so tief wie der Ozean.
    »Blöd, dass wir kein Wasser mitgenommen haben«, sage ich, »ich bin am Verdursten.«
    »Hinter dem Haus ist ein Trog mit frischem Wasser.«
    »Woher weißt du das?«
    Conor zögert. »Ich war mit Dad schon mal hier.«
    »Das hast du mir nie erzählt. Wann war das?«
    »Letztes Jahr, im Frühsommer.«
    »Bevor er… verschwunden ist?«
    »Ja, Saph, bevor er verschwunden ist.«
    »Was habt ihr getan?«
    »Wir sind spazieren gegangen. Er hat oben auf den Hügeln fotografiert und auf dem Rückweg sind wir an Granny Carnes Haus vorbeigekommen. Er sagte, er wolle nur mal kurz Hallo sagen.«

    Conor hält inne. Vermutlich hört auch er gerade Dads Stimme, wie sie genau diese Worte aussprechen. Dads Stimme brachte einen immer dazu, ihm zu

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