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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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nicht, das stimmt. Sie sagte, du hättest so seltsam ausgesehen, als wärst du direkt aus einem Traum gekommen. Sie war sich ganz sicher, dass du von der Bucht kamst. Sie sehnt sich selbst nach der Bucht, Sapphire. Tag für Tag sehnt sie sich mehr danach, und wäre ihr Bein wieder in Ordnung, wäre sie längst selbst die Felsen hinuntergeklettert. Du weißt, warum. Aber ich arbeite mit den Bienen daran, dass sie hierbleibt, wo sie hingehört. Also komm mir bei meiner Arbeit nicht in die Quere, Sapphire.«
    Das ist so ungerecht. Granny Carne kann doch nicht wirklich glauben, dass ich versuche, Gloria Fortune nach Indigo zu locken. Ich habe immer gut aufgepasst. Ihr gegenüber nie ein Wort verloren. Nicht nur, weil ich Indigo vor ihr verbergen will, aber ihr Leben wird nie wieder dasselbe sein, wenn sie erst einmal entdeckt, dass auch sie Mer-Blut besitzt. Was ist, wenn sie verschwindet, so wie Dad?
    Granny Carnes bernsteinfarbener Blick durchdringt die Dunkelheit, als wäre es helllichter Tag.
    »Was hast du aus Indigo mitgebracht, mein Mädchen?«
    »Was … was meinst du, Granny Carne?«
    »Du hast etwas bei dir. Ich spüre es. Etwas, das nicht von menschlicher Hand gemacht ist.«
    Natürlich meint sie die Koralle, aus der Elvira die kleine Figur geschnitzt hat. Die Mer-Figur für Conor. Aber wie kann sie das wissen? Sie ist doch in meiner Tasche versteckt. Als hätte Granny Carne tatsächlich im Gefühl, dass ein Gegenstand in der Nähe ist, der nicht zur Erde gehört.
    »Zeig es mir!«, sagt Granny Carne mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet.
    Ich steige vom Fahrrad und lehne es auf dem Grasstreifen gegen mein Bein. Der Lenker schwingt in meine Richtung und die Lampe beleuchtet meine Hände, als ich in die Tasche greife und vorsichtig den Talisman herausziehe, den ich in eines von Dads alten Taschentüchern eingeschlagen habe. Behutsam falte ich es auseinander. Wenn ich den Talisman hier im hohen Gras verliere, finde ich ihn vielleicht nicht wieder.
    Da ist die kleine Mer-Figur. Sie sieht lebendiger aus als je zuvor. Das Licht der Lampe fängt die geschwungene Schwanzflosse und die gestreckten Arme ein. Ein plötzlicher Windstoß setzt das Gras in Bewegung. In der Ferne heult eine Eule.
    »Zeig es mir, Sapphire«, wiederholt Granny Carne.
    Ich strecke ihr die Figur entgegen.
    Ich höre, wie sie den Atem einzieht. Sie beugt sich über die Figur, um besser sehen zu können. Ich nehme ihren Geruch nach Honig, Lavendel und Holzrauch wahr. Ihr zerfurchtes Gesicht ist ernst, als sie den Talisman betrachtet.
    »Willst du sie behalten, Granny Carne?«
    »Nein, mein Mädchen. Das ist nichts für mich. Du brauchst mir nicht zu erzählen, woher das kommt. Es genügt dir also nicht mehr, nach Indigo zu gehen und Luft und Erde und alles, was dazugehört, zu vergessen. Jetzt musst du Indigo auch noch bei dir tragen, wenn du zu uns zurückkehrst. Merkst du denn nicht, wie weit du dich von uns entfernst?«
    Ich hätte Granny Carne am liebsten erklärt, dass die geschnitzte Figur nicht für mich, sondern für Conor ist, doch irgendetwas hält mich davon ab. Granny Carne sieht die Erdseite von Conor. Sie vertraut ihm. Sie hat ihn sogar mit den Bienen sprechen lassen. Sie würde verhindern wollen, dass ich ihm Elviras Talisman gebe, damit Indigo ihn nicht stärker an sich binden kann. Aber ich habe Conor schon davon erzählt, und ich weiß, dass er ihn haben will, weil Elvira den Talisman für ihn angefertigt hat. Da ist es besser, Granny Carne in dem Glauben zu lassen, er gehöre mir.
    Aber ich werde sie nicht anlügen. Ihre Augen würden die Lüge sofort durchschauen. Ich schließe meine Finger wieder um die Figur und stecke sie in die Tasche zurück. Ich mache mir nicht die Mühe, sie erneut in das Taschentuch einzuwickeln; ich will den Talisman bloß so schnell wie möglich Granny Carnes Blicken entziehen.
    »Du warst also wieder in Indigo, und offenbar hat dir nicht gefallen, was du dort vorgefunden hast«, fährt Granny Carne fort. Obwohl ich ihr den Zweck der Figur verschwiegen habe, fühle ich mich durch die Dunkelheit und die Stille veranlasst, ihr zu vertrauen.
    »Granny Carne, jemand hat mir eine Geschichte von einem Monster erzählt, das auf dem Grund … der Erde lebt. Man muss ihm etwas opfern, sonst wird es alles zerstören. Niemand kann es aufhalten. Und so müssen die Leute … obwohl sie es nicht wollen …«
    »Ja«, sagt Granny Carne ruhig. »Ich kenne diese Geschichte.«
    »Du kennst sie? Aber woher?«

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