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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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Wie kann Granny Carne denn von dem Kraken erfahren haben? Sie ist durch und durch ein Erd- und Luftwesen. Ich bin mir so sicher, wie man nur sein kann, dass sie noch nie in Indigo war. Das entspricht nicht ihrer Natur. Granny Carne ist das Gegenteil von Indigo.
    »Es war vor langer Zeit«, fährt sie fort. Im fahlen Licht der Fahrradlampe scheinen die Furchen in ihrem Gesicht noch tiefer zu sein. »Er lebte in den Eingeweiden der Erde. Manche sagten, er sei ein Mann, andere sagten, er sei ein Bulle. Oder halb Mann, halb Bulle. Angeblich klang sein Grollen wie ein unterirdischer Donner. Ob er vor Zorn oder vor Schmerz grollte, wusste keiner zu sagen. Manchmal war jahrelang nichts von ihm zu hören, doch dann brüllte er plötzlich nach einem Opfer. Und solange das Opfer ausblieb, brachte er die Erde so zum Beben, dass Häuser einstürzten und Familien unter den Trümmern begraben wurden. Es war so, wie du sagst, Sapphire. Die Leute mussten etwas tun, auch wenn sie das eigentlich nicht wollten. Sie mussten das Untier besänftigen, und es gab nur einen einzigen Weg, das zu erreichen.«
    Ich bekomme eine Gänsehaut. So wie Granny Carne die Geschichte erzählt, könnte man glauben, sie spiele sich in diesem Moment ab.
    »Man legte Steine in einen Korb«, sprach sie weiter. »Einen Stein für jedes Kind der Stadt. Alle Steine waren weiß bis auf einen einzigen, der war rot. Dann breitete man ein Tuch über den Korb. Die Eltern traten nacheinander vor, ein Vater oder eine Mutter von jeder Familie. Einer nach dem anderen steckte die Hand unter das Tuch und wählte einen Stein aus. Wer den roten Stein erwischte, musste sein Kind opfern.«
    Während Granny Carne spricht, tritt das Bild der Vergangenheit deutlich hervor, wie eine Landschaft, über der sich der Nebel lichtet. Die Eltern zitterten vor Angst, als sie ihre Hand unter das Tuch steckten. Wagten kaum, den Stein in ihrer Hand zu betrachten. Die einen weißen Stein in ihrer Hand hielten, hätten vor Freude und Erleichterung am liebsten einen Luftsprung gemacht, doch sie taten es nicht, weil sie wussten, dass ein anderes Kind geopfert werden würde.
    »Aber warum haben sie sich nicht zusammengetan und gemeinsam gegen das Monster gekämpft?«
    Granny Carne schüttelt den Kopf. »Gegen ein Wesen, das die Erde zum Beben bringt, konnten sie nichts ausrichten. Hätten sie es versucht, wären alle Häuser eingestürzt und hätten die Kinder unter sich begraben. Doch opferte man ein einziges Kind auf dem Altar, war das Monster zufrieden und legte sich wieder schlafen, tief unter der Erde.«
    Ihre Worte wirbeln durch meinen Kopf. Opferte man ein Kind auf dem Altar! »Aber das bedeutet doch … das bedeutet, dass die Menschen ihre eigenen Kinder getötet haben!«
    »Es stimmt, dass eine menschliche Hand das Messer gehalten hat«, sagt Granny Carne. »Es war ein Mann, der selbst keine Kinder hatte. Doch niemand machte ihm einen Vorwurf. Es war das Monster, das für den Tod des Kindes verantwortlich war. Das Monster hatte das Opfer schließlich gefordert.«
    »Aber wie konnten sie das tun, Granny Carne? Wie können Eltern es zulassen, dass ihre eigenen Kinder getötet werden?«
    Granny Carne richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. »Sei dir nicht so sicher, dass die Gegenwart stärker und klüger ist als die Vergangenheit. Sie haben getan, was sie tun mussten. Hättest du die Gesichter all der Mütter und Väter gesehen, dann würdest du sie verstehen.«
    Hättest du die Gesichter gesehen? Ich starre Granny Carne an. Erneut klingt es so, als sei sie ebenso sehr in der Vergangenheit wie in der Gegenwart zu Hause. Als hätte sie all diese Gesichter mit eigenen Augen gesehen. Vielleicht hat sie das auch. Ich schaudere bei dem Gedanken, dass sich Granny Carne, deren Eulenblick nichts entgeht, mühelos durch die Zeiten bewegt.
    »Aber die Mer würden das niemals tun«, sage ich laut und denke daran, wie zärtlich Mellina ihr Mer-Baby betrachtet hat. »Sie opfern ihre eigenen Kinder nicht. Es ist der Krake, der sie nimmt.«
    »Ja«, sagt Granny Carne nachdenklich, »und was ich dir erzähle, ist weit entfernt und lange her, Sapphire. Und jetzt bist du aus Indigo zurückgekehrt und redest von dem Kraken. Er ist erwacht, nicht wahr, mein Mädchen?« Sie sagt das so beiläufig, als wäre der Krake ein Hund, der neben einer Feuerstelle geschlafen hat.
    »Ja.«
    »Er hat sehr lange geschlafen. Ich denke, es war wieder mal an der Zeit.« Sie seufzt müde. »So müssen wir also alles noch

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