Nixenfluch
Zweifel, dass ihm der Anblick schwer zu schaffen macht.
Der Krake gleitet näher an Faro heran. Er versucht, sein Gesicht im Spiegel zu erkennen, ohne sein eigenes sehen zu müssen. Der Krake späht seitwärts durch das Wasser und ist vor boshafter Schadenfreude schier aus dem Häuschen.
»Oh, Mer-Junge. Oh, dummer, kleiner Mer-Junge, der ein anderer ist, als er zu sein glaubt! Wie schrecklich! Wie außerordentlich schrecklich! Aber mach dir keine Sorgen, kleiner, dummer Mer-Junge, du musst dich nicht mehr lange quälen. Bald wirst du tot tot tot tot sein, dann musst du dir keine Sorgen mehr über dein Blut machen, weil du dann keins mehr haben wirst.«
Mir ist übel. Der Krake ist nicht zu bezwingen. Egal, was wir versuchen, er behält am Ende doch wieder die Oberhand. Er muss einfach in den Spiegel schauen. Doch warum sollte er das tun, nachdem er gesehen hat, was für schreckliche Wahrheiten der Spiegel bereithalten kann? Ich muss ihn irgendwie überreden. Ihn in Versuchung führen. Ihn davon überzeugen, dass er im Spiegel etwas ganz Wunderbares zu sehen bekommt.
»Armer, alter Faro«, sage ich kaltherzig und zwinkere dem Kraken zu. »Der Spiegel hat dir anscheinend nichts Nettes gezeigt. Wie sollte er auch!« Der Krake kichert.
»Saldowr wird furchtbar wütend sein«, fahre ich fort und gebe meiner Stimme einen ängstlichen Klang. »Ihm graute davor, dass …«
»Dass was?«
»Ach, nichts. Er wusste, dass du sowieso nicht in den Spiegel schauen würdest. Er sagte, du könntest den Anblick deines eigenen Spiegelbilds nicht ertragen.«
»Das hat er gesagt? Gesagt gesagt gesagt gesagt«, brabbelt der Krake. »Angst vor meinem Spiegelbild? Angst vor meinem Schatten – hat er das gesagt?«
»Ach, nein, ich hätte dir das gar nicht erzählen sollen.«
»Aber du hast es erzählt. Ihr Menschen seid kleine Plipper-Plapper-Mäulchen. Saldowr will nicht, dass ich in seinen kostbaren Spiegel schaue? Ha! Er hat Angst gehabt. Angst angst angst angst angst. Will seinen kostbaren Spiegel unbedingt für sich behalten. Für sich für sich für sich. Er ist so egoistisch. Versucht dem Kraken das vorzuenthalten, was rechtmäßig sein ist …«
Er gleitet näher an den Spiegel heran. Der Spiegel lockt ihn zu sich. Der Krake will seine ganze Pracht und Herrlichkeit sehen. Seine Eitelkeit ist noch größer als seine Furcht und sein Misstrauen. Er ist fest davon überzeugt, seine eigene Größe betrachten zu können.
»Hässlicher Mer-Junge«, murmelt er. »Hässlicher, hässlicher, kleiner Mer-Junge. An deiner Stelle würde ich mir nicht mal wünschen zu leben. Aber keine Sorgen, bald wirst du tot sein. Tot tot …«
Er hält inne und gleitet noch näher an den Rand des Spiegels heran. »Doch bevor ich mir die Mühe mache, euch zu töten«, fährt er mit einer Stimme fort, die leiser, sanfter und bedrohlicher ist als je zuvor, »werde ich Saldowr eins auswischen. Jetzt bin ich dran mit dem Spiegel.«
Der Krake stellt sich in Positur – und fährt herum.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Der Krake schaut tatsächlich in den Spiegel.
Für einen langen Moment herrscht absolute Stille. Ich warte darauf, dass er geblendet oder von seinem Spiegelbild getroffen wird wie der Blitz. Aber der Moment zieht sich in die Länge. Der Krake schaut und schaut … Er hat immer noch die Gestalt einer Garnele – doch nicht nur das. Trugbilder wachsen aus ihm hervor und bewegen sich in Richtung des Spiegels. Die Klauenkreatur, die Seeschlange, die Portugiesische Galeere, der gefräßige Hai und der Piranhaschwarm. Sie prallen auf den Spiegel und werden von ihm zurückgeworfen. Mit jeder Spiegelung scheinen sie größer und realer zu werden. Der Spiegel verleiht ihnen Stärke. Er vervielfacht die Dämonen, die der Krake aus sich selbst erschafft. Mit jeder Verwandlung seiner Gestalt gewinnt er an Macht.
Mein Blut gefriert zu Eis. Was habe ich nur getan? Wir alle werden sterben, und für die Mer besteht keinerlei Hoffnung mehr.
»Oh ja ja ja ja ja ja ja«, dringt die unpassend helle Garnelen-Stimme aus der Masse der Monster heraus. »Wie stark ich bin! Wie mächtig ich bin!«
Dann schießt ein Blitz aus dem Spiegel hervor.
Vierzehntes Kapitel
D er Krake erstarrt. Er ist nun weder eine Garnele noch ein Tintenfisch mit tanzenden Tentakeln oder eine Nacktschnecke. Er ist alles zugleich, wie ein Fernsehschirm, dessen Pixel durcheinandergeraten, bevor das Bild einfriert. Alle Wesen, deren Gestalt er abwechselnd angenommen hat,
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