Nixenfluch
allgemein bekannt, dass wir uns gerade in den Wäldern aufhalten. Mellina muss gewollt haben, dass wir das Baby sehen. Und Saldowr muss es auch gewollt haben, sonst hätte er nicht zugelassen, dass Elvira es zu seiner Höhle bringt.
Ich will nicht einmal daran denken, was Dad gewollt haben könnte. Das hat doch keinen Sinn. Ich klammere mich an Saldowrs Versprechen. Die Zeit wird kommen, in der wir wissen werden, was Dad wirklich will.
»Möchtest du ihn mal halten?«, fragt Elvira in ihrer sanften, einschmeichelnden Stimme. Elvira gleicht so sehr einer klassischen Meerjungfrau aus einem Märchen, dass sie einen fast unwirklichen Eindruck macht. Conor kann den Blick gar nicht von ihr abwenden. Ich bin immer noch misstrauisch.
»Ich … ich weiß nicht.«
»Er wird bestimmt nicht weinen. Er wird sehr gern im Arm gehalten.«
Er ist mein Bruder, nicht deiner , denke ich. Also erzähl mir nichts über ihn.
»Na gut, gib ihn her«, sage ich widerwillig.
Ich weiß nicht genau, wie man ein Baby hält. Ich kann mich gar nicht erinnern, je eins auf dem Arm gehabt zu haben, obwohl das bestimmt schon mal geschehen ist. Und dieses Baby hat auch noch eine Flosse, was die Sache nicht einfacher macht. Ich versuche, meine Arme genau so zu halten, wie Elvira das gemacht hat. Sie lächelt immer noch ihr irritierend-strahlendes Lächeln.
»Nicht so, Sapphire. Du musst die Unterarme ein bisschen mehr anwinkeln und näher an deinen Körper halten, dann kann er dir nicht ins Wasser gleiten. Er kann ja noch nicht besonders gut schwimmen. Ja, halt deine Arme genau so, dann gebe ich ihn dir.«
Für einen Moment gerate ich fast in Panik, als Elvira das Baby sanft emporhebt und in meine Arme legt. Was tue ich, wenn er mir wegschwimmt? Wenn er total glitschig ist? Wenn er mich nicht mag und zu schreien anfängt?
Doch nichts dergleichen geschieht. Mein kleiner Bruder sieht mich ernst und ein bisschen unsicher an, bleibt aber ganz ruhig. Ich lächle probehalber. Er ist viel schwerer als erwartet. Seine Schwanzflosse ist glatt und weich, nicht wie die Flosse eines erwachsenen Mer. Ich lasse sie auf meinem Arm ruhen, wie auch Elvira das getan hat. Das Ganze kommt mir so unwirklich vor. Zu wissen, dass man einen kleinen Mer-Bruder besitzt, ist das eine – ihn im Arm zu halten, etwas ganz anderes. Er wirkt so stabil, so real .
Mein Bruder. Seine kleine Flosse zuckt. Es fühlt sich so an, als wäre sie aus Seide. Er sieht aus wie … wie ein Mer . Wüsste ich es nicht besser, würde ich niemals vermuten, dass er auch nur einen Tropfen menschliches Blut in sich hat. Dennoch ist er mein kleiner Baby-Bruder.
Manchmal, als ich noch klein war, habe ich Mum in den Ohren gelegen, dass ich so gern ein kleines Geschwisterchen hätte. Ich wollte die große Schwester sein. Dann stellte ich mir vor, wie es wäre, ein Baby in unserem Haus zu haben, das in seinem Hochstuhl sitzt, durch die Gegend krabbelt und an meiner Hand laufen lernt. Doch Mum sagte immer, zwei Kinder seien ihr wirklich genug, und mit der Zeit begriff ich, dass es keinen Zweck hatte zu quengeln, weil es ja doch nie passieren würde.
Jetzt ist es passiert, aber ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Mein kleiner Bruder wird niemals krabbeln oder laufen. Er wird nicht die Dinge tun, die Conor und ich getan haben. Er wird nie über die Steine an der Bucht klettern, ein Lagerfeuer am Strand machen und darüber Würstchen braten. Er wird niemals zur Schule gehen, mit dem Boot rausfahren, Pommes essen oder Fußball spielen. Er ist ein Mer. Also wird er das machen, was Mer-Kinder machen, wenn sie aufwachsen. Ich muss Faro mal fragen, was es heißt, ein kleiner Mer-Junge zu sein. Was für Spiele sie spielen, wovor sie Angst haben. Er wird niemals Süßigkeiten oder Eiskreme probieren. Ich frage mich wirklich, was Mer-Kinder für Angewohnheiten haben.
Ich kenne nicht einmal seinen Namen. Ist das nicht unglaublich? Ich habe einen Bruder und kenne seinen Namen nicht.
»So, mein kleiner Mordowrgi«, sagt Elvira zu dem Baby. »Sag Hallo zu deiner großen Schwester.«
»Mordowrgi, ist das sein Name?«
Elvira schüttelt den Kopf. »Nein, das ist nur sein Kosename. Seinen richtigen Namen bekommt er später. Den können wir ihm doch erst geben, wenn wir wissen, wie er sich entwickelt, oder?«, sagt sie lachend, als hätte ich eine äußerst alberne Frage gestellt.
»Wir bekommen unsere Namen direkt nach der Geburt«, entgegne ich.
»Wie seltsam euer Leben manchmal ist. Was für einen
Weitere Kostenlose Bücher