Nixenjagd
rechten Seite.« Die Kommissarin stieß langsam den angehaltenen Atem aus und sagte: »Also haben wir es mit einem Mord zu tun. Einem geplanten und eiskalt und grausam durchgezogenen Mord.« »Oder mit zweien«, ergänzte Daniel. »Das Problem ist: Es lässt sich leider nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass es tatsächlich so war. Wie gesagt, die Spurenlage war durch den Regen dürftig, die Ersthelferin und der Notarzt haben das Mädchen bewegt und dabei womöglich noch die letzten Spuren zerstört.« »Aber der Draht . . .«, warf Petra ein. »Schnitte von einem Draht«, korrigierte Baumann. »Sie waren zwar relativ frisch, aber wann genau sie entstanden sind, das lässt sich nicht sagen. Natürlich haben wir seither in alle Richtungen ermittelt. Das Problem ist: Wir fanden kein Motiv für den Mord an einer Fünfzehnjährigen. Es war kein Sexualverbrechen, auch kein Raubmord – was bleibt da noch?« »Liebe, Hass, Eifersucht«, antwortete Petra ohne Zögern.
Baumann nickte. »Es wurden über hundert Freunde, Freundinnen, Mitschüler, Verwandte, Nachbarn vernommen. Solveig war klug, beliebt und harmlos. Keine Feindschaften außer den üblichen kleinen Eifersüchteleien. Die Familienverhältnisse waren intakt – nirgends ein Anhaltspunkt. Wir sind in dieser Sache noch keinen Schritt weiter«, gestand er. »Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um eine fahrlässige Tötung handelt; einen sogenannten Dummejungenstreich, der dann schlimmer ausgegangen ist als beabsichtigt. So was wie Steine von der Autobahnbrücke werfen, Sie wissen schon. Manchmal kommen Kinder ja auf die seltsamsten Ideen. Wir haben in dem Wohngebiet, das an den Wald grenzt, sämtliche Familien befragt, in der Hoffnung, dass irgendein Jugendlicher oder ein Kind kalte Füße bekommt und was ausplaudert.« Baumann hob die kräftigen Schultern und ließ sie ratlos wieder sinken. »Nichts.« Er sah Petra aufmerksam an. »Und bei Ihnen?« »Wir haben ein totes Mädchen, Katrin Pankau, sechzehn Jahre alt. Ertrunken im Blauen See bei Garbsen in der Nacht vom sechsten auf den siebten Juli.« Petra schilderte die näheren Umstände und kam zu dem Schluss: »Es ist ähnlich wie bei diesem Fall. Es könnte ein Mord gewesen sein. Aber ebenso gut ein Unfall. Eine Straftat ist bislang nicht zu beweisen. Auffällig ist nur, dass in derselben Nacht eine Taucherausrüstung der Wasserwacht gestohlen wurde.« »Und wo sehen Sie den Zusammenhang der beiden Fälle?«, fragte Baumann. »Ich meine – die eine verunglückt mit dem Rad und die andere beim Schwimmen.« »Solveig hatte einen Freund, Paul Römer. Stimmt das?«, vergewisserte sich Petra. »Moment.« Baumann blätterte in der Akte. »Ja. Hier ist das Ver nehmungsprotokoll mit ihm. Soweit ich mich erinnere, war der Junge damals völlig am Boden zerstört.« »Paul Römers Familie ist vor ein paar Wochen umgezogen. Katrin Pankau war seine Klassenkameradin. Sie hat mit ihm ein Schäferstündchen im Zelt verbracht, kurz bevor sie ertrunken ist.« Hauptkommissar Volker Baumann strich über sein etwas nachlässig rasiertes Kinn und tat einen schweren Atemzug. Er und die Kommissarin aus Hannover sahen sich an und Volker Baumann sprach den Gedanken aus, den sie beide hatten: »Das ist allerdings auffällig.« Der Kommissar sah auf die Uhr. »Ich muss leider in eine dringende Besprechung. Ich würde Ihnen jetzt sofort die Akten kopieren lassen, Frau Gerres, und möchte Sie bitten...« »Ich habe unsere Kopien schon dabei«, unterbrach ihn Petra und wies auf ihre pralle Aktentasche. »Sehr gut.« Sein Gesicht strahlte. »Ich schlage vor, dass wir die Unterlagen gegenseitig studieren und uns so bald wie möglich noch einmal zusammensetzen, wenn wir uns mit der Aktenlage vertraut gemacht haben.« Der Vorschlag gefiel Petra. Sie stapelte die Kopien auf Baumanns Schreibtisch. Endlich, dachte sie, endlich kommt Bewegung in die Sache. Baumann gab zuerst Daniel und dann Petra die Hand. Sein Händedruck war wohldosiert. »Danke für Ihren Besuch. Wir bleiben in Verbindung«, sagte er zu Petra. Warum nicht, dachte sie und lächelte ihm zu.
2 9
Franziska lag auf ihrem Bett und horchte auf die Geräusche von unten: Der Schuhschrank klappte, die Bügel schlugen an die Garderobe, ein Schlüsselbund klimperte, Bruno wurde ermahnt, brav zu sein. Acht Uhr. Ihre Mutter war im Aufbruch begriffen. Franziskas Vater verließ das Haus immer schon gegen sieben Uhr. Er war Controller bei der Reifenfirma Continental,
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