Nixenmagier
darüber keine Sorgen. Die Zeit vergeht heute
Nacht im Schneckentempo«, entgegnet er mit größter Beiläufigkeit.
»Wie meinst du das?«
»So wie ich es sage. Die Umstände sind günstig. Komm mit nach Indigo, und im Nu wirst du wieder zurück sein. Schau dir den Mond an.«
Ich hebe meinen Kopf. Die Wolken scheinen von seiner hellen Oberfläche regelrecht davonzufliegen. Mein Gesicht badet in silbernem Mondlicht.
»Du bist bereits in Indigo, Sapphire«, sagt Faro.
Er hat recht. Tief in meinem Herzen habe ich die Luft bereits verlassen. Die mächtig anschwellende Flut umschließt meine Füße, meine Knie, meine Taille. Der nächste Schwall des Wassers hebt mich vom Felsen herunter und zieht mich ins Meer hinein.
Nach Indigo. Ich lasse die Luft entweichen und es tut kaum weh. Ich atme ohne zu atmen. Mein Körper bezieht den Sauerstoff direkt aus dem reichhaltigen Wasser. Meine Haare fließen aufwärts und umschlingen mein Gesicht. Ich streiche sie beiseite. Indigo. Ich bin wieder in Indigo, so wie vor zwei Nächten. Die Straße des Mondlichts führt weit in die Tiefe. Ich hechte nach vorne und folge ihr.
Wie schnell ich in Indigo vorankomme. Meine Schwimmzüge sind kraftvoller als jede Bewegung, die ich an der Luft ausführen könnte. Unter mir, auf dem Meeresgrund, lässt das Mondlicht den weißen Sand aufleuchten. Das Wasser fühlt sich gar nicht kalt an. Es fühlt sich so an, als wäre ich … als wäre ich …
Zu Hause. Dort, wo ich sein sollte. Ich öffne meine Augen weit, drehe den Kopf und sehe Faro an meiner Seite. Seine Schwanzflosse glitzert.
»Schau mal!« Er zeigt nach unten. Ich sehe etwas Großes, eine dunkle Masse, die halb unterm Meeresboden begraben liegt. Es handelt sich weder um ein Riff noch um einen toten Wal oder etwas anderes, das zu Indigo gehört. Es besteht aus einem Material, das auf der Erde beheimatet ist. Metall. Ja, das ist es. Ein stählernes Schiff, vom Rost zerfressen, auf dem Weg nach nirgendwo.
»Ich weiß, was das ist«, sage ich. »Es ist das Wrack der Ballantine . Bei Ebbe sieht man ihre Schornsteine aus dem Wasser ragen.«
»Der Wind hat sie auf die Küste zugetrieben und sie ist zerschellt«, sagt Faro. »Wir haben gerufen und gerufen, um die Seeleute zu warnen, aber sie konnten uns nicht hören.«
»Das ist doch schon 70 Jahre her, Faro. Warum redest du ständig über Ereignisse, die lange zurückliegen, als hättest du sie selbst erlebt?«
»Öffne dein Bewusstsein, Sapphire. Lass uns miteinander reden, so wie wir im Sommer miteinander geredet haben.«
Damals hat Faro meine Erinnerungen gesehen und ich seine. Die Mer sind dazu in der Lage, weil ihr Bewusstsein nicht streng voneinander getrennt ist, so wie bei uns Menschen.
»Willst du sehen, was damals passiert ist?«, fragt Faro. Er schwimmt nahe an mich heran. »Schau dir die Ballantine genau an, Sapphire.«
Ich starre in die dunkle Tiefe. Es wäre ein Leichtes, zum Wrack hinunterzuschwimmen und das scharfkantige Metall des aufgerissenen Schiffsrumpfs zu berühren.
Aber das will ich nicht. Das Wrack macht mir Angst. Es muss grauenvoll sein, auf die Küste zugetrieben zu werden, während man dem Sturm und den Gezeiten hilflos ausgeliefert
ist. Das Schiff kann jeden Moment an den Riffen zerschellen, doch das Wasser ist zu aufgewühlt, um an Land schwimmen zu können.
Der Wind beginnt zu pfeifen. Ich höre Stimmen, die panisch aufschreien. Die Ballantine wird von einer riesigen Welle emporgehoben und gegen ein unsichtbares Riff geschleudert. Eine Erschütterung geht durch das Schiff, dessen Seite kreischend aufgerissen wird, worauf das Meerwasser in den Schiffsbauch flutet. Schreie gellen durch das tosende Inferno.
»Nein, Faro, nein! Ich will nichts mehr hören!«
Plötzlich schließt sich das Fenster der Erinnerung. Ich bin zurück im ruhigen, mondbeschienenen Wasser, gemeinsam mit Faro.
»Jetzt hast du es selbst gesehen, kleine Schwester«, sagt er zufrieden. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du deine Fähigkeit in der Stadt verloren hast.«
Ich schaudere. »Wie kann die Schiffskatastrophe in deinem Gedächtnis sein, Faro? Du bist doch gar nicht alt genug, um dich daran zu erinnern.«
»Meine Vorfahren haben die Erinnerung an mich weitergegeben, und jetzt habe ich dich an ihr teilhaben lassen. «
»Ich wünschte, du hättest das bleiben lassen. Ich will diese Erinnerung nicht in meinem Bewusstsein haben. Lass uns von hier verschwinden.«
»Wie du willst. Übrigens gibt es da jemand in Indigo, der
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