Nixenmagier
ablenken. Heute ist Mrs Eagle jedenfalls durch und durch alt. Auch Granny Carne ist alt, wenngleich sie sich vor meinen Augen in eine Frau verwandelt hat, die aussah
wie eine junge Birke. Ich weiß, dass ich mir das nicht eingebildet habe. Und die Verwandlung hat nichts mit einer alten Frau zu tun, die sich innerlich jung fühlt.
»Mrs Eagle kann nicht tun, was Sie getan haben«, sage ich mit größter Entschiedenheit. »Nur Sie sprechen über die Zeit, als könnten Sie Hunderte von Jahren zurückblicken.«
Doch plötzlich fällt mir etwas ein. Es gibt noch jemand, der das tut. Faro . Er spricht genauso über die Zeit wie Granny Carne, als würden Vergangenheit und Gegenwart unmittelbar ineinanderfließen. Als hätte er mit eigenen Augen gesehen, wie die Ballantine am Riff zerschellte. Und auch ich habe es gesehen, als ich seine Gedanken teilte.
Granny Carne seufzt und sieht jetzt sehr alt aus. »Du stellst viele Fragen, Sapphire. Schwierige Fragen, die ich nicht alle beantworten kann. Aber du sollst wissen, dass es nicht viele gibt, die das sehen können, was du gerade gesehen hast.«
»Warum haben Sie es mich sehen lassen?«
»Es lag einzig an dir. Du besitzt die Fähigkeit, die alte und die junge Frau zur selben Zeit zu sehen. Du glaubst, dass sich deine besonderen Fähigkeiten auf Indigo beschränken, aber das liegt nur daran, dass du es so sehen willst.«
»Aber Sie haben doch selbst gesagt, wie stark mein Mer-Blut ist. Das haben Sie mir und Conor letzten Sommer erzählt. «
»Ja, aber das ist nicht alles. Dein Mer-Blut mag stark sein, doch auch dein Erdenblut hat große Kraft. Vielleicht nicht so viel Kraft wie das deines Bruders, doch es ist stark genug. «
»Ist Erdenblut gleichbedeutend damit, dass man an der Luft lebt, ich meine, dass man ein Mensch ist?«
»Nein. Die meisten Leute müssen sich ihr Leben lang nicht zwischen der Erde und Indigo entscheiden. Sie haben das nicht nötig, weil sie so glücklich sind, wie sie sind. Sie leben ausschließlich in der Gegenwart und an einem einzigen Ort. Für sie ist die Vergangenheit aufgerollt wie ein Teppich und unerreichbar. Dasselbe gilt für die Zukunft. Vielleicht sind sie die Glücklichsten«, fügt Granny Carne hinzu.
»Ich kann kein Glück darin erkennen, nicht nach Indigo zu können.«
»Frag deinen Bruder.«
Conors Worte hallen durch meinem Kopf: Ich muss versuchen, mich hier heimisch zu fühlen . Conor versucht wirklich, ein Teil von St. Pirans zu werden, zu surfen, Gitarre zu spielen, sich mit Freunden zu treffen – und doch hält er unentwegt nach Elvira Ausschau. Vielleicht wünscht er sich, er wäre ihr nie begegnet. Vielleicht wäre es besser für ihn, er hätte Indigo niemals kennengelernt, weil es ihm dann leichter fiele, sich in St. Pirans heimisch zu fühlen.
»Schlafenszeit!«, sagt Granny Carne abrupt. Sie drückt mir einen Kerzenstummel in die Hand und zündet ihn an. »Sadie schläft heute Nacht in meinem Zimmer, Sapphire.«
»Aber …«
»Sie ist noch nicht stark genug und braucht meine Nähe. Sie braucht die Erde, um wieder zu Kräften zu kommen. Spürst du das nicht? Sadie ist ein Erdwesen. Sie liebt dich, das macht alles so schwer für sie. Heute Nacht wird Sadie in einem tiefen Schlaf versinken, so wie die Erde im Winter. Der wird sie gesund machen. Du weißt doch, wie eine Zwiebelknolle den gesamten Winter unter der Erde liegt, um genug Kraft für den Frühling zu sammeln.«
»Aber Sadie wird doch nicht den ganzen Winter lang schlafen, oder?«
»Nein, sie wird ihren Winterschlaf in einer einzigen Nacht erledigen.«
»Sie sagen, dass Sadie mich liebt. Ich liebe sie auch. Ich kümmere mich um sie. Ich würde niemals zulassen, dass ihr etwas zustößt.«
»Niemals?« Das Kerzenlicht flackert und lässt einen Schatten über Granny Carnes Gesicht tanzen. Ihre Augen liegen im Dunkeln. »Niemals, Sapphire?«
Ich habe Sadie an den Pfosten gebunden, weil ich nach Indigo wollte. Sadie wäre fast gestorben … Aber das war keine Absicht. Ich wollte nicht, das ihr etwas zustößt, es war nur, weil Indigo so stark war …
Von alldem sage ich nichts, doch bin ich sicher, dass Granny Carne Bescheid weiß. Sie legt Sadie ihre Hand auf den Kopf, und Sadie versucht gar nicht erst, zu mir zu kommen. Sie sieht mich nur mit ihren sanften braunen Augen an, als wolle sie sagen: Versuche, es zu verstehen. Ich kann heute Nacht nicht bei dir sein.
Die Tür schließt sich hinter Granny Carne und Sadie. Ich wasche mich schnell und
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