Nixenmagier
sie mit einer zusammengelegten Decke zurückkommt. Die Decke wirkt gar nicht alt, sondern besteht aus dicker, flauschiger Wolle und sieht so aus, als käme sie von Granny Carnes eigenem Bett. Sie breitet sie für Sadie neben dem Ofen aus.
»Ich kann nicht über Nacht hierbleiben, Granny Carne. Ich muss zu Hause sein, ehe es dunkel wird. Meine Mutter denkt, dass ich in der Schule bin.«
»Sadie braucht dich hier.«
»Aber Mum …«
»Ich werde ihr eine Nachricht zukommen lassen. Sobald du es dir hier gemütlich gemacht hast, werde ich ins Dorf gehen und mit Mary Thomas sprechen. Sie hat ein Telefon .« Aus Granny Carnes Mund klingt das wie etwas höchst Ungewöhnliches und nicht Wünschenswertes. »Deine Mutter wird wissen, dass du bei mir in guten Händen bist.«
Granny Carne hat zwei Schlafzimmer im Obergeschoss: ein großes und ein kleines, das sie als »Kammer« bezeichnet. Dort werde ich schlafen. Ich habe mich mit der Situation
abgefunden: Ich kann Sadie nicht allein lassen. Es gibt eine Waschschüssel aus Porzellan sowie einen Krug, den Granny Carne mit dem Wasser füllt, das sie draußen von der Quelle holt. Ein Badezimmer gibt es nicht. Wenn Granny Carne ein Bad nehmen will, erhitzt sie das Wasser auf dem Ofen und gießt es in eine emaillierte Badewanne, die an einem Haken an der Wand hängt. Sie ist sehr klein und hat drinnen eine schmale Stufe, auf der man sitzen kann. Granny Carne bezeichnet sie als Sitzbad. Probier es nur aus, mein Mädchen , sagt sie, doch ich entgegne, das Waschbecken sei absolut ausreichend. Auch eine Toilette sucht man hier vergeblich. Auf der Außentoilette, die Granny Carne Abort nennt, ist es so kalt, dass ich hoffe, heute Nacht nicht rauszumüssen. Nicht einmal Toilettenpapier gibt es dort, nur auseinandergeschnittene Seiten des Cornishman , der hiesigen Lokalzeitung, die auf einen Nagel gesteckt sind.
Es wird früh dunkel. Sadie will nichts essen, trinkt aber ein wenig Wasser. Granny Carne ist in den Ort gegangen. Ich bin mit Sadie allein. Ich frage mich, was Mary Thomas wohl denken wird, wenn sie erfährt, dass wir hier übernachten. Soweit ich weiß, ist noch nie jemand bei Granny Carne über Nacht geblieben. Die Leute achten sie, fürchten sie jedoch auch aufgrund ihres Wissens. Es gibt unzählige Geschichten darüber, dass sie in die Zukunft blicken und Wunden heilen kann, bei denen jede Medizin versagt. Ich meine nicht Krankheiten wie Krebs, sondern eher seelische Leiden. Granny Carne hat großen Einfluss auf sie.
Ich weiß immer noch nicht, ob ich daran glauben soll, dass Granny Carne in die Zukunft blickt. Doch bin ich ganz sicher, dass sie Dinge sieht und versteht, die gewöhnlichen Menschen verschlossen bleiben. Ihre Fähigkeiten stammen
von der Erde. Vor vielen Jahren wäre sie vermutlich als Hexe verbrannt worden, weil sie zu viel weiß. Das hat Dad immer gesagt.
Ich stelle mir vor, wie sie den Pfad in Richtung Senara hinunterschreitet und schließlich auf den Weg gelangt, der zu Mary Thomas’ und unserem Haus führt. Unsere Fenster sind bereits erleuchtet. Im November wird es früh dunkel. Doch Granny Carne findet auch im Dunkeln den Weg. Ich bin froh, dort nicht vorbeigehen und mit ansehen zu müssen, wie andere Leute in meinem Haus wohnen. Ob die Vorhänge immer noch dieselben sind? Diese rot karierten Vorhänge, die Mum angefertigt hat, als wir noch klein waren. Sie sahen immer so einladend aus, wenn das Licht durch sie hindurchschien, als wir an den Winternachmittagen von der Schule nach Hause kamen.
Ich frage mich, ob die Leute, die jetzt bei uns wohnen, manchmal zu unserer Bucht hinuntergehen. Ob sie jemals einen Blick auf Faro und Elvira erhaschen, wenn sie an der Mündung der Bucht auf den Felsen sitzen, wo Conor und ich ihnen das erste Mal begegnet sind? Ich hoffe, dass sie es nicht tun. Das hat nichts mit Egoismus zu tun. Falls sie die Mer erblickten, wäre ihr Leben nicht mehr dasselbe wie vorher.
Granny Carnes Haus liegt mindestens zwei Meilen vom Meer entfernt. Ich weiß nicht, wie weit Indigos Macht ins Land hineinreicht, doch Granny Carnes Haus gehört definitiv der Erde an. Vielleicht schläft Sadie deshalb so friedlich beim Ofen. Ich hingegen fühle mich weniger friedvoll. Ich bleibe wegen Sadie, doch es gefällt mir nicht. Ich bin hier nicht zu Hause.
Die Vorbereitungen für die Nacht nehmen eine geraume Zeit in Anspruch. Ich helfe Granny Carne, das Feuerholz aus dem Schuppen hereinzutragen, und fülle einen Eimer mit Kohle. Der Ofen
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