Nixenmagier
schlüpfe ins kalte Bett. Ich frage mich, wann wohl das letzte Mal jemand in diesem Bett geschlafen hat. Vielleicht vor mehreren hundert Jahren. Ich schaudere.
Ich wünschte, ich wäre zu unserem Haus hinuntergegangen. Einfach nur, um es wiederzusehen. Granny Carne sagt, meine Mutter habe nichts dagegen, dass ich über Nacht hier bleibe, doch mit einem Mal fühle ich mich schrecklich einsam, habe Sehnsucht nach Mum, Conor und unserem
Zuhause. Meine Kammer ist den Hügeln zugewandt. Sie ist dunkel und still und erdig. Ich kann weder das Meer hören noch das Salz in der Luft schmecken.
Ich bin sicher, dass ich nicht werde schlafen können. Wie viele Stunden sind es noch bis morgen früh? Viele, viele Stunden. Die Zeit vergeht so langsam. Es scheint mir Hunderte von Jahren her zu sein, dass ich St. Pirans heute Morgen mit Sadie verlassen habe.
Es ist nicht nur kalt, sondern es gibt auch wenig Luft. Die Atmosphäre ist drückend. Wie in einer Höhle oder einem unterirdischen Bau. Es kommt mir so vor, als laste die Erde wie ein Deckel auf mir. Wie in einem Sarg …
Hör auf, Sapphire! Du bist doch nicht im Gefängnis hier. Morgen wird es Sadie viel besser gehen und wir werden mit dem Bus nach St. Pirans zurückfahren. Mum wird bestimmt böse sein, auch wenn Granny Carne das Gegenteil behauptet, aber das ist mir egal. Ich will nur nach Hause.
Ich sollte lieber das Fenster öffnen und ein bisschen frische Luft hereinlassen. Die Luft in diesem Zimmer ist so abgestanden – das ist es, was mich an einen Sarg denken lässt. Eigentlich wollte ich unter dem Bett nachsehen, bevor ich mich hinlege, aber das habe ich nicht getan. Immer wenn ich ins Bett gehe, ohne zuvor einen prüfenden Blick darunter zu werfen, habe ich das beklemmende Gefühl, dass sich dort jemand versteckt halten könnte. Aber deshalb werde ich mich noch lange nicht unter der Decke verkriechen. Das wäre ja furchtbar.
Die Kerze! Warum habe ich nicht früher daran gedacht. Ich werde sie anzünden. Mir liegt zwar nicht gerade an den Schatten, die Kerzen an die Wand werfen, doch ist das besser als Dunkelheit. Oh, nein, ich habe keine Streichhölzer.
Granny Carne hat die Kerze für mich angezündet. Warum hat sie mir keine Streichhölzer mitgegeben? Was ist, wenn ich bis zum Abort gehen muss? Im Dunkeln finde ich mich hier nicht zurecht, so wie zu Hause. Wenn ich meine Arme ausstrecke und irgendetwas … berühre?
Ach, wäre Sadie nur hier. Sie ist zwar bloß nebenan in Granny Carnes Zimmer, doch habe ich das Gefühl, als würde sie meilenweit weg sein. Das Wichtigste ist, dass Sadie wieder auf die Beine kommt, Sapphire. Denk daran, wie schrecklich sie aussah, als sie an der Bushaltestelle auf dem Boden lag.
Ich fröstele. Es ist sehr kalt. Ich wünschte, alles wäre anders. Völlig anders.
Ich bin in Granny Carnes Haus, in den Hügeln über Senara. Ich wünschte wirklich, ich wäre zu unserem Haus hinuntergegangen. Auch wenn jetzt andere Leute dort leben, ist es immer noch mein Zuhause.
Plötzlich kommt mir eine glänzende Idee. Wenn es stimmt, was Granny Carne über die Zeit gesagt hat, falls mein Erdenblut wirklich genauso stark wie mein Mer-Blut ist, dann könnte ich versuchen, die Zeit zurückzudrehen, so wie Granny Carne es getan hat. Ich könnte jetzt gleich zu unserem Haus gehen, durch die Lücke im Küchenvorhang spähen und einen Blick in die Vergangenheit werfen. Vielleicht sitzen wir gerade beim Abendessen: Mum, Dad, ich und Conor. Aber ich muss sehr vorsichtig sein, denn falls die Sapphire von damals zufällig die Sapphire von heute erblickt, würde sie bestimmt fürchterlich erschrecken.
Wir alle wären jünger. Sie wären jünger, Dad, Mum, Conor und Sapphire von damals. Sie wüssten nicht, was in der Zwischenzeit alles geschehen ist.
Vielleicht kann es sogar ungeschehen gemacht werden. Könnte man in die Vergangenheit zurückkehren, hätte sich die Zukunft ja noch gar nicht ereignet. Vielleicht sollten sie mich sehen, bevor die Zeit den Moment erreicht, an dem Dad verschwindet.
Nein, wenn sie mich sehen, wird es nicht funktionieren, sondern nur ein gewaltiges Chaos geben.
Doch wenn ich Dad allein begegnen würde – dem Dad der Vergangenheit –, dann könnte ich ihn womöglich davon abhalten, uns zu verlassen. Ich könnte ihm von allem berichten, was inzwischen passiert ist: von seiner eigenen Trauerfeier, den weinenden Menschen, von Mum, die unbeweglich vor sich hin starrte, und wie uns das Geld ausging und Mum Roger kennenlernte
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