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Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Dunmore
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und dass sie jetzt ein Paar sind und Conor in Indigo fast umgekommen wäre und dass wir danach nach St. Pirans gezogen sind und von all den anderen Dingen, von denen er nichts wissen kann. Und dann könnte er dafür sorgen, dass all diese Dinge niemals geschehen.
    Überaus vorsichtig stehe ich auf. Ich kauere mich ans Kopfende des Bettes, mache einen Satz und lande so leise, wie ich kann. Niemand liegt unter dem Bett und greift nach meinen Fußgelenken.
    Hier ungefähr muss das Fenster sein. Ich taste nach dem Haken. Ja, das Fenster lässt sich leicht öffnen. Ich schiebe es weit auf.
    Kalte, frische Luft strömt herein. Sie riecht nach Erde. Ich lehne mich weit hinaus. Obwohl ich mich im ersten Stock befinde, geht es hinter dem Haus so steil bergauf, dass es ein Leichtes wäre, aus dem Fenster zu springen. Draußen ist es viel heller als drinnen. Den Mond kann ich von hier aus nicht sehen, aber die Sterne leuchten hell.

    Eine verwegene Idee kommt mir in den Sinn. Vielleicht könnte ich tatsächlich gleich unserem Haus einen Besuch abstatten. Granny Carne hat ihren Weg im Dunkeln schließlich auch gefunden. Wenn sich die Zeit zurückdrehen lässt und wir gemeinsam am Tisch sitzen – ich und Dad, Mum und Conor –, dann wird auch der Reserveschlüssel immer noch an seinem alten Platz unter der Schieferplatte neben der Haustür liegen. Ich werde warten, bis wir alle im Bett liegen, dann die Tür öffnen und auf Zehenspitzen zu Mums und Dads Schlafzimmer schleichen. Ich werde Dad aufwecken und ihm erzählen, was alles geschehen wird, wenn er uns verlässt.
    Es ist ein weiter Weg bis zu unserem Haus. Man muss dem Pfad bis zur Straße folgen, dann den Ort durchqueren und schließlich den Weg entlanggehen, der zu unserem Grundstück führt. Doch der Mond und die Sterne spenden genug Licht. Es wäre möglich.
    Ich lehne mich weit hinaus und überlege, wo ich am sichersten landen kann. Das Mondlicht ist viel stärker geworden. Obwohl sich mein Fenster an der Rückseite des Hauses befindet, den Hügeln zugewandt, kann ich die Umgebung deutlich erkennen. Der Mondschein taucht das Zimmer in ein bläuliches, gespenstisches Licht, doch draußen ist es bestimmt hell genug, um dem Pfad nach unten folgen zu können.
    In diesem Moment höre ich ein entferntes Rauschen. Ich dachte eigentlich, Granny Carnes Haus läge zu weit vom Meer entfernt, um die Brandung hören zu können. Vermutlich hat sich der Wind gedreht. Aber nein, die Luft steht still. Kein Hauch ist zu spüren, dennoch nehme ich das untrügliche Rauschen der Wellen wahr. Sie brechen sich schäumend
in unserer Bucht und rollen auf den sauberen hellen Sand, der bei Ebbe sichtbar, bei Flut verborgen ist.
    Was ist das?
    »Ssssssapphhhiiiiiiire … Ssssssapphhhiiiiiiire …«
    Eine Welle. Nur das zischende Geräusch einer Welle, die den Strand überspült.
    »Ssssssapphhhiiiiiiire … Ssssssapphhhiiiiiiire …«
    Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Es ist dasselbe Geräusch wie damals, als wir noch in unserem Haus lebten und ich nachts eine Stimme hörte, worauf Sadie heftig zu bellen begann und eine Eule an meinem Fenster vorbeiflog. Das Geräusch verschwand daraufhin.
    »Ssssssapphhhiiiiiiire …«
    »Ssssssapphhhiiiiiiire …«
    Sadie bleibt ruhig. Nichts als die Stimme ist zu hören. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Es ist doch eine andere Stimme als beim letzten Mal.
    Es ist Dads Stimme. Ich weiß es genau. Dad ruft mich. Wie ist das möglich?
    Ein Teil von mir wünscht sich, dass Sadie anfängt zu bellen und Granny Carne aufwacht. Letzten Sommer, als ich die andere Stimme hörte, ist Granny Carne erwacht. Die Eule, die an meinem Fenster vorbeiflog, hatte ihre Augen. Wenn Sadie jetzt bellt, würde Dads Stimme verblassen und erneut Dunkelheit herrschen. Ich ginge wieder ins Bett, und morgen würde mir alles wie ein Traum vorkommen.
    Doch ein anderer Teil von mir ist voll sehnsüchtiger Erwartung. Dies ist kein Traum. Ich bin hellwach, obwohl ich das Gefühl habe, außer mir schliefe die ganze Welt. Sadie hält ihren Winterschlaf, der sie laut Granny Carne wieder gesund machen wird. Wo auch immer sie sich jetzt aufhält,
sie wird mich weder hören noch wissen, was gerade mit mir geschieht.
    Ich blicke in den Himmel. Damals hat Granny Carne auf mich aufgepasst und mich in Gestalt einer Eule beschützt. Doch nicht heute Nacht. Vielleicht ruht sogar ihre Macht. Conor und Mum sind weit entfernt in St. Pirans. Aber ich fürchte mich nicht. Heute brauche ich keinen Schutz.

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